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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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bei vielen Werken Goethes der Fall, wo das Einzelne uns so gewaltig er¬
greift, daß wir an die Komposition gar nicht denken, oder uns den Gedanken
leicht aus dem Sinn schlagen.

Eine mächtige Natur ist Stifter nicht, er zwingt uns nicht, ihm zu solgen;
aber er ist eine seelenvolle und bedeutende Natur, und wenn wir dem Wider¬
streben unserer Einbildungskraft Gewalt anthun, und ihm wirklich folgen, so
werden wir reich belohnt. Seine Fehler sind so handgreiflich, und werden
durch die herrschende Richtung der Zeit so wenig motivirt, daß sie zuerst jeden
Leser als etwas Unerhörtes, Seltsames überraschen; bei einigem Nachdenken
aber findet man den Grund in einer an sich völlig gerechtfertigten Reaction
gegen gewisse Verkehrtheiten des Zeitalters, und so hat man schließlich das
beruhigende Gefühl, genetisch zu begreifen, was man künstlerisch nicht billi¬
gen kann.

Ein Anhaltpunkt für das Verständniß Stifters ergibt sich zunächst, wenn
man verwandte Erscheinungen aus der frühern Literatur damit vergleicht.
Solche sind Goethes Meister, namentlich die Wanderjahre, Novalis Ofterdingen
und Tiecks Novellen, hauptsächlich der junge Tischlermeister. Die Aufgabe
dieser Dichter, in der Stifter mit ihnen wetteifert, ist, das Leben in seiner
Totalität poetisch zu verklären, das Symbol des Ewigen nicht in einer ein¬
zelnen Geschichte, sondern in der Ausmalung der Zustände wie sie sein sollten
und sein könnten, zu realisiren. Die Sittlichkeit des Privatlebens, die Erzie¬
hung, die Anstalten zum angenehmem Genuß des Lebens und zu einer zweck¬
müßigen Ausfüllung desselben. Kunst. Wissenschaft und alles, was dazu gehört,
das ist der große Gegenstand, den Stifter zum Vorwurf seines Gemäldes macht,
und für den die Geschichte nur den gleichgiltigen Nahmen bildet.

Die Aufgabe ist so unbegrenzt, daß sie sich überhaupt nicht durchführen
läßt, am wenigsten auf künstlerischem Wege, allein wir sind durch die socialen
Romane unsrer vorwiegend kritischen Zeit bereits so daran gewöhnt, daß
sie uns nicht weiter befremdet. Das Auffallende liegt bei Stifter nicht in
der Kritik an sich, sondern in der Richtung der Kritik, die dem Zeitgeist
durchaus widerspricht. Man fragt nun vor allem, ob' der Dichter,
abgesehn von der künstlerischen Berechtigung des Problems, durch seine Bil¬
dung und Einsicht dazu berufen ist, über solche Dinge überhaupt eine Stimme
abzugeben. Es haben so viele Unberufene in diesem Geschäft gearbeitet, daß
man jeden neuen Versuch einer Reflexion über das Leben überhaupt,
mit dem Vorgefühl in die Hand nimmt, eine Sottise darin zu finden. Hier
^ird man nun bei Stifter sehr angenehm überrascht. Manche seiner Ideen
sind sehr anfechtbar, und es fehlt ihnen durchweg die jugendliche Frische, die
dem Leser den rechten Lebensmuth einflößt, aber er sagt nichts, worüber er
nicht reiflich nachgedacht hat, und seine Bildung ist nicht blos höchst vielseitig,


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bei vielen Werken Goethes der Fall, wo das Einzelne uns so gewaltig er¬
greift, daß wir an die Komposition gar nicht denken, oder uns den Gedanken
leicht aus dem Sinn schlagen.

Eine mächtige Natur ist Stifter nicht, er zwingt uns nicht, ihm zu solgen;
aber er ist eine seelenvolle und bedeutende Natur, und wenn wir dem Wider¬
streben unserer Einbildungskraft Gewalt anthun, und ihm wirklich folgen, so
werden wir reich belohnt. Seine Fehler sind so handgreiflich, und werden
durch die herrschende Richtung der Zeit so wenig motivirt, daß sie zuerst jeden
Leser als etwas Unerhörtes, Seltsames überraschen; bei einigem Nachdenken
aber findet man den Grund in einer an sich völlig gerechtfertigten Reaction
gegen gewisse Verkehrtheiten des Zeitalters, und so hat man schließlich das
beruhigende Gefühl, genetisch zu begreifen, was man künstlerisch nicht billi¬
gen kann.

Ein Anhaltpunkt für das Verständniß Stifters ergibt sich zunächst, wenn
man verwandte Erscheinungen aus der frühern Literatur damit vergleicht.
Solche sind Goethes Meister, namentlich die Wanderjahre, Novalis Ofterdingen
und Tiecks Novellen, hauptsächlich der junge Tischlermeister. Die Aufgabe
dieser Dichter, in der Stifter mit ihnen wetteifert, ist, das Leben in seiner
Totalität poetisch zu verklären, das Symbol des Ewigen nicht in einer ein¬
zelnen Geschichte, sondern in der Ausmalung der Zustände wie sie sein sollten
und sein könnten, zu realisiren. Die Sittlichkeit des Privatlebens, die Erzie¬
hung, die Anstalten zum angenehmem Genuß des Lebens und zu einer zweck¬
müßigen Ausfüllung desselben. Kunst. Wissenschaft und alles, was dazu gehört,
das ist der große Gegenstand, den Stifter zum Vorwurf seines Gemäldes macht,
und für den die Geschichte nur den gleichgiltigen Nahmen bildet.

Die Aufgabe ist so unbegrenzt, daß sie sich überhaupt nicht durchführen
läßt, am wenigsten auf künstlerischem Wege, allein wir sind durch die socialen
Romane unsrer vorwiegend kritischen Zeit bereits so daran gewöhnt, daß
sie uns nicht weiter befremdet. Das Auffallende liegt bei Stifter nicht in
der Kritik an sich, sondern in der Richtung der Kritik, die dem Zeitgeist
durchaus widerspricht. Man fragt nun vor allem, ob' der Dichter,
abgesehn von der künstlerischen Berechtigung des Problems, durch seine Bil¬
dung und Einsicht dazu berufen ist, über solche Dinge überhaupt eine Stimme
abzugeben. Es haben so viele Unberufene in diesem Geschäft gearbeitet, daß
man jeden neuen Versuch einer Reflexion über das Leben überhaupt,
mit dem Vorgefühl in die Hand nimmt, eine Sottise darin zu finden. Hier
^ird man nun bei Stifter sehr angenehm überrascht. Manche seiner Ideen
sind sehr anfechtbar, und es fehlt ihnen durchweg die jugendliche Frische, die
dem Leser den rechten Lebensmuth einflößt, aber er sagt nichts, worüber er
nicht reiflich nachgedacht hat, und seine Bildung ist nicht blos höchst vielseitig,


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[0171] bei vielen Werken Goethes der Fall, wo das Einzelne uns so gewaltig er¬ greift, daß wir an die Komposition gar nicht denken, oder uns den Gedanken leicht aus dem Sinn schlagen. Eine mächtige Natur ist Stifter nicht, er zwingt uns nicht, ihm zu solgen; aber er ist eine seelenvolle und bedeutende Natur, und wenn wir dem Wider¬ streben unserer Einbildungskraft Gewalt anthun, und ihm wirklich folgen, so werden wir reich belohnt. Seine Fehler sind so handgreiflich, und werden durch die herrschende Richtung der Zeit so wenig motivirt, daß sie zuerst jeden Leser als etwas Unerhörtes, Seltsames überraschen; bei einigem Nachdenken aber findet man den Grund in einer an sich völlig gerechtfertigten Reaction gegen gewisse Verkehrtheiten des Zeitalters, und so hat man schließlich das beruhigende Gefühl, genetisch zu begreifen, was man künstlerisch nicht billi¬ gen kann. Ein Anhaltpunkt für das Verständniß Stifters ergibt sich zunächst, wenn man verwandte Erscheinungen aus der frühern Literatur damit vergleicht. Solche sind Goethes Meister, namentlich die Wanderjahre, Novalis Ofterdingen und Tiecks Novellen, hauptsächlich der junge Tischlermeister. Die Aufgabe dieser Dichter, in der Stifter mit ihnen wetteifert, ist, das Leben in seiner Totalität poetisch zu verklären, das Symbol des Ewigen nicht in einer ein¬ zelnen Geschichte, sondern in der Ausmalung der Zustände wie sie sein sollten und sein könnten, zu realisiren. Die Sittlichkeit des Privatlebens, die Erzie¬ hung, die Anstalten zum angenehmem Genuß des Lebens und zu einer zweck¬ müßigen Ausfüllung desselben. Kunst. Wissenschaft und alles, was dazu gehört, das ist der große Gegenstand, den Stifter zum Vorwurf seines Gemäldes macht, und für den die Geschichte nur den gleichgiltigen Nahmen bildet. Die Aufgabe ist so unbegrenzt, daß sie sich überhaupt nicht durchführen läßt, am wenigsten auf künstlerischem Wege, allein wir sind durch die socialen Romane unsrer vorwiegend kritischen Zeit bereits so daran gewöhnt, daß sie uns nicht weiter befremdet. Das Auffallende liegt bei Stifter nicht in der Kritik an sich, sondern in der Richtung der Kritik, die dem Zeitgeist durchaus widerspricht. Man fragt nun vor allem, ob' der Dichter, abgesehn von der künstlerischen Berechtigung des Problems, durch seine Bil¬ dung und Einsicht dazu berufen ist, über solche Dinge überhaupt eine Stimme abzugeben. Es haben so viele Unberufene in diesem Geschäft gearbeitet, daß man jeden neuen Versuch einer Reflexion über das Leben überhaupt, mit dem Vorgefühl in die Hand nimmt, eine Sottise darin zu finden. Hier ^ird man nun bei Stifter sehr angenehm überrascht. Manche seiner Ideen sind sehr anfechtbar, und es fehlt ihnen durchweg die jugendliche Frische, die dem Leser den rechten Lebensmuth einflößt, aber er sagt nichts, worüber er nicht reiflich nachgedacht hat, und seine Bildung ist nicht blos höchst vielseitig, 21*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/171>, abgerufen am 27.07.2024.