Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sondern vor allen Dingen ehrlich und gewissenhaft. Man labt sich an der
Rechtschaffenheit seines Denkens und Empfindens, auch da, wo man entschie¬
den von ihm abweicht.

Das Grundprincip seines gesammten Schaffens möchten wir in Folgen¬
dem suchen. Unser Zeitalter zehrt von einer überreichen Cultur, die es nicht
selbst mühsam erarbeitet, sondern durch die Anstrengung eines frühern Ge¬
schlechts zum bequemen Besitz überkommen hat. Schon auf den Knaben
drängen sich eine Masse Vorstellungen ein, die er bald als Scheidemünze von
anerkannten Gepräge auszugeben lernt, ohne sie vorher auf die Wagschale zu
legen. Nicht blos die Literatur, sondern selbst die Sprache, deren wir uns
im gewöhnliche" Umgang bedienen, ist von unzähligen Abstractionen gesättigt,
dem Resultat tausendjähriger metaphysischer Anstrengungen, die wir nun leicht¬
sinnig verwerthen. Wir wissen über Dinge zu reden, die im Zeitalter des
Aristoteles den gebildetsten Griechen außer Fassung würden gesetzt haben.
Wenn aber jeder mühelose Erwerb ein zweifelhaftes Glück zu nennen ist, so
gilt das auf dem geistigen Gebiet in noch'viel höherm Grade. Durch die
Vielseitigkeit unseres Blicks sind wir an Zerstreutheit gewöhnt, das Gefühl
der Ehrfurcht und Andacht ist schwach geworden, wir sind zur Ungründlich-
keit geneigt, und was damit nothwendig zusammenhängt, auch die Integrität
unsers Gewissens ist abgeschwächt: wir lassen die Sprache nicht blos für uns
denken, wir lassen sie auch für uns empfinden, und ohne ein klares Bewußt¬
sein darüber zu haben, kommt es uns auf eine kleine Lüge nicht an, bis wir
endlich mit Salomo ausrufen: alles ist eitel! Freilich hat diese Zerstreutheit
eine Grenze an den Berufsgeschäften der Einzelnen. Ungründlich in den all¬
gemeinen Beziehungen des Lebens, verstehn wir in dem Fach, für das wir
wirklich erzogen sind, es ernst zu nehmen. Der Jurist, der Techniker, der
Philolog ist in seinem Fach viel systematischer gebildet, viel mehr an strenge
Folge und Nothwendigkeit gewöhnt, als es zu andern Zeiten Sitte war. Dies
müssen wir immer im Auge halten, wenn man über die allgemeine Blasirt-
heit unserer Periode Klagelieder anstimme. Freilich reicht es noch nicht aus.
in dieser beschränkten Sphäre ehrlich zu sein, wenn man ein Dilettant ist in
allen übrigen, und es ist in unserm Volke so viel guter sittlicher Fond, daß
der Staatsmann wie der Dichter wol darauf kommen kann, ob nicht durch
dieselbe Methode, die den Menschen in seinem Beruf ehrlich macht, auch die'
Ehrlichkeit des ganzen Lebens wieder hergestellt werden kann.

Die Sicherheit des Technikers gründet sich auf seine systematische Erzie¬
hung, wir können sie im Kleinen an unserm Gymnasialunterricht verfolgen.
Der Vorzugddes lateinischen Sprächunterrichts liegt darin, daß der Knabe in
jedem Augenblick zur strengsten Aufmerksamkeit angehalten, und gezwungen
wird, sich jeden Augenblick über das, was er thut, Rechenschaft zu geben, und


sondern vor allen Dingen ehrlich und gewissenhaft. Man labt sich an der
Rechtschaffenheit seines Denkens und Empfindens, auch da, wo man entschie¬
den von ihm abweicht.

Das Grundprincip seines gesammten Schaffens möchten wir in Folgen¬
dem suchen. Unser Zeitalter zehrt von einer überreichen Cultur, die es nicht
selbst mühsam erarbeitet, sondern durch die Anstrengung eines frühern Ge¬
schlechts zum bequemen Besitz überkommen hat. Schon auf den Knaben
drängen sich eine Masse Vorstellungen ein, die er bald als Scheidemünze von
anerkannten Gepräge auszugeben lernt, ohne sie vorher auf die Wagschale zu
legen. Nicht blos die Literatur, sondern selbst die Sprache, deren wir uns
im gewöhnliche» Umgang bedienen, ist von unzähligen Abstractionen gesättigt,
dem Resultat tausendjähriger metaphysischer Anstrengungen, die wir nun leicht¬
sinnig verwerthen. Wir wissen über Dinge zu reden, die im Zeitalter des
Aristoteles den gebildetsten Griechen außer Fassung würden gesetzt haben.
Wenn aber jeder mühelose Erwerb ein zweifelhaftes Glück zu nennen ist, so
gilt das auf dem geistigen Gebiet in noch'viel höherm Grade. Durch die
Vielseitigkeit unseres Blicks sind wir an Zerstreutheit gewöhnt, das Gefühl
der Ehrfurcht und Andacht ist schwach geworden, wir sind zur Ungründlich-
keit geneigt, und was damit nothwendig zusammenhängt, auch die Integrität
unsers Gewissens ist abgeschwächt: wir lassen die Sprache nicht blos für uns
denken, wir lassen sie auch für uns empfinden, und ohne ein klares Bewußt¬
sein darüber zu haben, kommt es uns auf eine kleine Lüge nicht an, bis wir
endlich mit Salomo ausrufen: alles ist eitel! Freilich hat diese Zerstreutheit
eine Grenze an den Berufsgeschäften der Einzelnen. Ungründlich in den all¬
gemeinen Beziehungen des Lebens, verstehn wir in dem Fach, für das wir
wirklich erzogen sind, es ernst zu nehmen. Der Jurist, der Techniker, der
Philolog ist in seinem Fach viel systematischer gebildet, viel mehr an strenge
Folge und Nothwendigkeit gewöhnt, als es zu andern Zeiten Sitte war. Dies
müssen wir immer im Auge halten, wenn man über die allgemeine Blasirt-
heit unserer Periode Klagelieder anstimme. Freilich reicht es noch nicht aus.
in dieser beschränkten Sphäre ehrlich zu sein, wenn man ein Dilettant ist in
allen übrigen, und es ist in unserm Volke so viel guter sittlicher Fond, daß
der Staatsmann wie der Dichter wol darauf kommen kann, ob nicht durch
dieselbe Methode, die den Menschen in seinem Beruf ehrlich macht, auch die'
Ehrlichkeit des ganzen Lebens wieder hergestellt werden kann.

Die Sicherheit des Technikers gründet sich auf seine systematische Erzie¬
hung, wir können sie im Kleinen an unserm Gymnasialunterricht verfolgen.
Der Vorzugddes lateinischen Sprächunterrichts liegt darin, daß der Knabe in
jedem Augenblick zur strengsten Aufmerksamkeit angehalten, und gezwungen
wird, sich jeden Augenblick über das, was er thut, Rechenschaft zu geben, und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0172" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105449"/>
          <p xml:id="ID_390" prev="#ID_389"> sondern vor allen Dingen ehrlich und gewissenhaft. Man labt sich an der<lb/>
Rechtschaffenheit seines Denkens und Empfindens, auch da, wo man entschie¬<lb/>
den von ihm abweicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_391"> Das Grundprincip seines gesammten Schaffens möchten wir in Folgen¬<lb/>
dem suchen. Unser Zeitalter zehrt von einer überreichen Cultur, die es nicht<lb/>
selbst mühsam erarbeitet, sondern durch die Anstrengung eines frühern Ge¬<lb/>
schlechts zum bequemen Besitz überkommen hat. Schon auf den Knaben<lb/>
drängen sich eine Masse Vorstellungen ein, die er bald als Scheidemünze von<lb/>
anerkannten Gepräge auszugeben lernt, ohne sie vorher auf die Wagschale zu<lb/>
legen. Nicht blos die Literatur, sondern selbst die Sprache, deren wir uns<lb/>
im gewöhnliche» Umgang bedienen, ist von unzähligen Abstractionen gesättigt,<lb/>
dem Resultat tausendjähriger metaphysischer Anstrengungen, die wir nun leicht¬<lb/>
sinnig verwerthen. Wir wissen über Dinge zu reden, die im Zeitalter des<lb/>
Aristoteles den gebildetsten Griechen außer Fassung würden gesetzt haben.<lb/>
Wenn aber jeder mühelose Erwerb ein zweifelhaftes Glück zu nennen ist, so<lb/>
gilt das auf dem geistigen Gebiet in noch'viel höherm Grade. Durch die<lb/>
Vielseitigkeit unseres Blicks sind wir an Zerstreutheit gewöhnt, das Gefühl<lb/>
der Ehrfurcht und Andacht ist schwach geworden, wir sind zur Ungründlich-<lb/>
keit geneigt, und was damit nothwendig zusammenhängt, auch die Integrität<lb/>
unsers Gewissens ist abgeschwächt: wir lassen die Sprache nicht blos für uns<lb/>
denken, wir lassen sie auch für uns empfinden, und ohne ein klares Bewußt¬<lb/>
sein darüber zu haben, kommt es uns auf eine kleine Lüge nicht an, bis wir<lb/>
endlich mit Salomo ausrufen: alles ist eitel! Freilich hat diese Zerstreutheit<lb/>
eine Grenze an den Berufsgeschäften der Einzelnen. Ungründlich in den all¬<lb/>
gemeinen Beziehungen des Lebens, verstehn wir in dem Fach, für das wir<lb/>
wirklich erzogen sind, es ernst zu nehmen. Der Jurist, der Techniker, der<lb/>
Philolog ist in seinem Fach viel systematischer gebildet, viel mehr an strenge<lb/>
Folge und Nothwendigkeit gewöhnt, als es zu andern Zeiten Sitte war. Dies<lb/>
müssen wir immer im Auge halten, wenn man über die allgemeine Blasirt-<lb/>
heit unserer Periode Klagelieder anstimme. Freilich reicht es noch nicht aus.<lb/>
in dieser beschränkten Sphäre ehrlich zu sein, wenn man ein Dilettant ist in<lb/>
allen übrigen, und es ist in unserm Volke so viel guter sittlicher Fond, daß<lb/>
der Staatsmann wie der Dichter wol darauf kommen kann, ob nicht durch<lb/>
dieselbe Methode, die den Menschen in seinem Beruf ehrlich macht, auch die'<lb/>
Ehrlichkeit des ganzen Lebens wieder hergestellt werden kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_392" next="#ID_393"> Die Sicherheit des Technikers gründet sich auf seine systematische Erzie¬<lb/>
hung, wir können sie im Kleinen an unserm Gymnasialunterricht verfolgen.<lb/>
Der Vorzugddes lateinischen Sprächunterrichts liegt darin, daß der Knabe in<lb/>
jedem Augenblick zur strengsten Aufmerksamkeit angehalten, und gezwungen<lb/>
wird, sich jeden Augenblick über das, was er thut, Rechenschaft zu geben, und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0172] sondern vor allen Dingen ehrlich und gewissenhaft. Man labt sich an der Rechtschaffenheit seines Denkens und Empfindens, auch da, wo man entschie¬ den von ihm abweicht. Das Grundprincip seines gesammten Schaffens möchten wir in Folgen¬ dem suchen. Unser Zeitalter zehrt von einer überreichen Cultur, die es nicht selbst mühsam erarbeitet, sondern durch die Anstrengung eines frühern Ge¬ schlechts zum bequemen Besitz überkommen hat. Schon auf den Knaben drängen sich eine Masse Vorstellungen ein, die er bald als Scheidemünze von anerkannten Gepräge auszugeben lernt, ohne sie vorher auf die Wagschale zu legen. Nicht blos die Literatur, sondern selbst die Sprache, deren wir uns im gewöhnliche» Umgang bedienen, ist von unzähligen Abstractionen gesättigt, dem Resultat tausendjähriger metaphysischer Anstrengungen, die wir nun leicht¬ sinnig verwerthen. Wir wissen über Dinge zu reden, die im Zeitalter des Aristoteles den gebildetsten Griechen außer Fassung würden gesetzt haben. Wenn aber jeder mühelose Erwerb ein zweifelhaftes Glück zu nennen ist, so gilt das auf dem geistigen Gebiet in noch'viel höherm Grade. Durch die Vielseitigkeit unseres Blicks sind wir an Zerstreutheit gewöhnt, das Gefühl der Ehrfurcht und Andacht ist schwach geworden, wir sind zur Ungründlich- keit geneigt, und was damit nothwendig zusammenhängt, auch die Integrität unsers Gewissens ist abgeschwächt: wir lassen die Sprache nicht blos für uns denken, wir lassen sie auch für uns empfinden, und ohne ein klares Bewußt¬ sein darüber zu haben, kommt es uns auf eine kleine Lüge nicht an, bis wir endlich mit Salomo ausrufen: alles ist eitel! Freilich hat diese Zerstreutheit eine Grenze an den Berufsgeschäften der Einzelnen. Ungründlich in den all¬ gemeinen Beziehungen des Lebens, verstehn wir in dem Fach, für das wir wirklich erzogen sind, es ernst zu nehmen. Der Jurist, der Techniker, der Philolog ist in seinem Fach viel systematischer gebildet, viel mehr an strenge Folge und Nothwendigkeit gewöhnt, als es zu andern Zeiten Sitte war. Dies müssen wir immer im Auge halten, wenn man über die allgemeine Blasirt- heit unserer Periode Klagelieder anstimme. Freilich reicht es noch nicht aus. in dieser beschränkten Sphäre ehrlich zu sein, wenn man ein Dilettant ist in allen übrigen, und es ist in unserm Volke so viel guter sittlicher Fond, daß der Staatsmann wie der Dichter wol darauf kommen kann, ob nicht durch dieselbe Methode, die den Menschen in seinem Beruf ehrlich macht, auch die' Ehrlichkeit des ganzen Lebens wieder hergestellt werden kann. Die Sicherheit des Technikers gründet sich auf seine systematische Erzie¬ hung, wir können sie im Kleinen an unserm Gymnasialunterricht verfolgen. Der Vorzugddes lateinischen Sprächunterrichts liegt darin, daß der Knabe in jedem Augenblick zur strengsten Aufmerksamkeit angehalten, und gezwungen wird, sich jeden Augenblick über das, was er thut, Rechenschaft zu geben, und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/172
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/172>, abgerufen am 27.07.2024.