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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Kammer erlangten, worauf das katholische Ministerium einem liberalen unter
Rogiers Vorsitz Platz machte. Außer Rogier standen an der Spitze der
Geschäfte Hoffschmidt, de Haussy, Veydt, Chazal und Frere-Orban, sämmtlich
Männer der gemäßigten Linken, Das Programm der neuen Regierung lautete
auf Bewahrung der Unabhängigkeit der bürgerlichen Gewalt von der Geistlich¬
keit, deren Stellung im Uebrigen unangetastet bleiben sollte. Sodann aber
kündigten die Minister verschiedene wichtige Gesetzvorlagen, Bildung der Staats-
prüfungscommisstonen durch die Negierung statt der gesetzgebenden Körper¬
schaften, Rücknahme des nothombschen Gesetzes, welches dem König die Be-
fugniß ertheilte, die Bürgermeister außerhalb der Gemeinderäthe zu ernennen,
Herbeiziehung der Kapacitäten in den activen Wählerkörpern u> a. in. an.
Ferner verpflichteten sie sich, jede Art von Zollerhöhungen zu verhindern, eine
den Consumenten günstigere finanzielle Behandlung der Lebensmittel einzu¬
führen, dem Ackerbau aufzuhelfen und Maßregeln zur Milderung des Elends
in Flandern zu treffen.

Diesem Programm kam das Ministerium mit Eifer und Geschick nach.
Besonders entwickelte sich die materielle Blüte des Landes unter dieser Ver¬
waltung wie nie vorher. Durch die Errichtung zahlreicher Ackerbau- und
Gewerbschulen, Volksbibliotheken, Musterwerkstätten und Sparkassen so wie
durch andere dem Arbeiterstand zu Gute kommende administrative und legis¬
lative Maßregeln wurden nicht nur die Grundlagen des Wohlstandes befestigt,
sondern auch das Nationalgefühl gekräftigt, die Vorstellungen von politischen
Rechten und Pflichten geläutert und die öffentliche Ordnung gestärkt. Den
Kampf mit der klerikalen Opposition führte das Cabinet in der jetzt endlich
zur Erledigung kommenden Unterrichtsfrage mit Besonnenheit und Geschick
-- Eigenschaften, deren es bedürfte, da die katholische Partei der liberalen in
der zweiten Kammer an Stimmenzahl beinahe gleich stand und der Senat mit
wenigen Ausnahmen dem Ministerium feindselig war.

Die Probe, welche die Festigkeit deS belgischen Staates 1848 zu bestehen
hatte und glücklich bestand, ist bekannt. Es war ein Glück für das junge König¬
reich, daß sein Geschick während der Februarrevolution in den Händen liberaler
Minister lag. Die Reformen, mit denen man in Paris so lange zögerte, bis
der Thron darüber zusammenstürzte, waren in Belgien bereits eingeleitet, ehe
der Sturm losbrach. Der Wahlcensus wurde herabgesetzt, der Zeitungsstempel
aufgehoben, die Bürgerwehr organisirt, der Staatshaushalt durch zweckmäßige
Finanzmaßregeln geordnet, die Unverträglichkeit besoldeter Staatsämter mit
dem Beruf eines Volksvertreters gesetzlich festgestellt. Angesichts dieser Refor¬
men, zu veren die Erklärung des Königs trat, die Krone sogleich niederlegen
zu wollen, wenn die Nation es wünsche, scheiterten alle Versuche der franzö¬
sischen Propaganda, auch in Belgien eine Revolution mit republikanischen


Kammer erlangten, worauf das katholische Ministerium einem liberalen unter
Rogiers Vorsitz Platz machte. Außer Rogier standen an der Spitze der
Geschäfte Hoffschmidt, de Haussy, Veydt, Chazal und Frere-Orban, sämmtlich
Männer der gemäßigten Linken, Das Programm der neuen Regierung lautete
auf Bewahrung der Unabhängigkeit der bürgerlichen Gewalt von der Geistlich¬
keit, deren Stellung im Uebrigen unangetastet bleiben sollte. Sodann aber
kündigten die Minister verschiedene wichtige Gesetzvorlagen, Bildung der Staats-
prüfungscommisstonen durch die Negierung statt der gesetzgebenden Körper¬
schaften, Rücknahme des nothombschen Gesetzes, welches dem König die Be-
fugniß ertheilte, die Bürgermeister außerhalb der Gemeinderäthe zu ernennen,
Herbeiziehung der Kapacitäten in den activen Wählerkörpern u> a. in. an.
Ferner verpflichteten sie sich, jede Art von Zollerhöhungen zu verhindern, eine
den Consumenten günstigere finanzielle Behandlung der Lebensmittel einzu¬
führen, dem Ackerbau aufzuhelfen und Maßregeln zur Milderung des Elends
in Flandern zu treffen.

Diesem Programm kam das Ministerium mit Eifer und Geschick nach.
Besonders entwickelte sich die materielle Blüte des Landes unter dieser Ver¬
waltung wie nie vorher. Durch die Errichtung zahlreicher Ackerbau- und
Gewerbschulen, Volksbibliotheken, Musterwerkstätten und Sparkassen so wie
durch andere dem Arbeiterstand zu Gute kommende administrative und legis¬
lative Maßregeln wurden nicht nur die Grundlagen des Wohlstandes befestigt,
sondern auch das Nationalgefühl gekräftigt, die Vorstellungen von politischen
Rechten und Pflichten geläutert und die öffentliche Ordnung gestärkt. Den
Kampf mit der klerikalen Opposition führte das Cabinet in der jetzt endlich
zur Erledigung kommenden Unterrichtsfrage mit Besonnenheit und Geschick
— Eigenschaften, deren es bedürfte, da die katholische Partei der liberalen in
der zweiten Kammer an Stimmenzahl beinahe gleich stand und der Senat mit
wenigen Ausnahmen dem Ministerium feindselig war.

Die Probe, welche die Festigkeit deS belgischen Staates 1848 zu bestehen
hatte und glücklich bestand, ist bekannt. Es war ein Glück für das junge König¬
reich, daß sein Geschick während der Februarrevolution in den Händen liberaler
Minister lag. Die Reformen, mit denen man in Paris so lange zögerte, bis
der Thron darüber zusammenstürzte, waren in Belgien bereits eingeleitet, ehe
der Sturm losbrach. Der Wahlcensus wurde herabgesetzt, der Zeitungsstempel
aufgehoben, die Bürgerwehr organisirt, der Staatshaushalt durch zweckmäßige
Finanzmaßregeln geordnet, die Unverträglichkeit besoldeter Staatsämter mit
dem Beruf eines Volksvertreters gesetzlich festgestellt. Angesichts dieser Refor¬
men, zu veren die Erklärung des Königs trat, die Krone sogleich niederlegen
zu wollen, wenn die Nation es wünsche, scheiterten alle Versuche der franzö¬
sischen Propaganda, auch in Belgien eine Revolution mit republikanischen


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[0458] Kammer erlangten, worauf das katholische Ministerium einem liberalen unter Rogiers Vorsitz Platz machte. Außer Rogier standen an der Spitze der Geschäfte Hoffschmidt, de Haussy, Veydt, Chazal und Frere-Orban, sämmtlich Männer der gemäßigten Linken, Das Programm der neuen Regierung lautete auf Bewahrung der Unabhängigkeit der bürgerlichen Gewalt von der Geistlich¬ keit, deren Stellung im Uebrigen unangetastet bleiben sollte. Sodann aber kündigten die Minister verschiedene wichtige Gesetzvorlagen, Bildung der Staats- prüfungscommisstonen durch die Negierung statt der gesetzgebenden Körper¬ schaften, Rücknahme des nothombschen Gesetzes, welches dem König die Be- fugniß ertheilte, die Bürgermeister außerhalb der Gemeinderäthe zu ernennen, Herbeiziehung der Kapacitäten in den activen Wählerkörpern u> a. in. an. Ferner verpflichteten sie sich, jede Art von Zollerhöhungen zu verhindern, eine den Consumenten günstigere finanzielle Behandlung der Lebensmittel einzu¬ führen, dem Ackerbau aufzuhelfen und Maßregeln zur Milderung des Elends in Flandern zu treffen. Diesem Programm kam das Ministerium mit Eifer und Geschick nach. Besonders entwickelte sich die materielle Blüte des Landes unter dieser Ver¬ waltung wie nie vorher. Durch die Errichtung zahlreicher Ackerbau- und Gewerbschulen, Volksbibliotheken, Musterwerkstätten und Sparkassen so wie durch andere dem Arbeiterstand zu Gute kommende administrative und legis¬ lative Maßregeln wurden nicht nur die Grundlagen des Wohlstandes befestigt, sondern auch das Nationalgefühl gekräftigt, die Vorstellungen von politischen Rechten und Pflichten geläutert und die öffentliche Ordnung gestärkt. Den Kampf mit der klerikalen Opposition führte das Cabinet in der jetzt endlich zur Erledigung kommenden Unterrichtsfrage mit Besonnenheit und Geschick — Eigenschaften, deren es bedürfte, da die katholische Partei der liberalen in der zweiten Kammer an Stimmenzahl beinahe gleich stand und der Senat mit wenigen Ausnahmen dem Ministerium feindselig war. Die Probe, welche die Festigkeit deS belgischen Staates 1848 zu bestehen hatte und glücklich bestand, ist bekannt. Es war ein Glück für das junge König¬ reich, daß sein Geschick während der Februarrevolution in den Händen liberaler Minister lag. Die Reformen, mit denen man in Paris so lange zögerte, bis der Thron darüber zusammenstürzte, waren in Belgien bereits eingeleitet, ehe der Sturm losbrach. Der Wahlcensus wurde herabgesetzt, der Zeitungsstempel aufgehoben, die Bürgerwehr organisirt, der Staatshaushalt durch zweckmäßige Finanzmaßregeln geordnet, die Unverträglichkeit besoldeter Staatsämter mit dem Beruf eines Volksvertreters gesetzlich festgestellt. Angesichts dieser Refor¬ men, zu veren die Erklärung des Königs trat, die Krone sogleich niederlegen zu wollen, wenn die Nation es wünsche, scheiterten alle Versuche der franzö¬ sischen Propaganda, auch in Belgien eine Revolution mit republikanischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/458>, abgerufen am 23.07.2024.