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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Die Liberalen erwarteten jetzt, der König werde auf Rogiers Plan,
nach welchem ein liberales Ministerium gebildet und von diesem durch Aus¬
lösung der Kammern an das Land appellirt werden sollte, eingehen. Noch
schien aber dem besonnenen, genau rechnenden und gegen den bisher mehr
negativ ausgetretenen Liberalismus mißtrauischen König der Zeitpunkt zur
Ausführung jenes Planes nicht gekommen, und da es zu gleicher Zeit un¬
möglich schien, wieder mit einem aus dem Centrum genommenen Cabinet zu
regieren, so wurde de Theur, eines der Häupter der Klerikalen beauftragt,
ein Ministerium aus Männern seiner Partei zu bilden. Dies geschah im
Mürz 1846. Die Hoffnungen der Liberalen waren hierdurch dem Anschein nach
um sechs Jahre zurückverschlagen. Seit 1840 war im Sinne emweder der
gemäßigten Linken oder der gemäßigten neckten regiert worden, und jetzt
hatte man plötzlich wieder ein entschieden katholisches Cabinet. Das war ein
Anachronismus, erklärte entrüstet die liberale Presse. Es war aber vielmehr
ein Fortschritt, indem dadurch die Union endlich vollkommen zerrissen, der
Gegensatz der Parteien wieder in den Vordergrund gerückt und die Energie
der Liberalen zur äußersten Anstrengung getrieben wurde, die nun sehr
bald einen Sieg erfocht, wie sie sich noch keines gleichen hatte rühmen
können.

Die Linke sah ein, weshalb sie ihren Gegnern bisher fast immer das
Feld hatte überlassen müssen. Die einheitliche Organisation der Kirche und
ihrer Geistlichkeit gewährte der katholischen Partei den Vortheil einer gemein¬
samen Losung, bestimmter Ziele und einer strengen, dem Einzelwillen keinen
Spielraum lassenden Disciplin, während die liberale, in verschiedene Fractionen
gespalten, ihre Kräfte nutzlos versplitterte. Zur Berathung eines gemein¬
schaftlichen Feldzugsplanes trat jetzt, im Juni 1846, ein Kongreß der Libe¬
ralen aller Fractionen in Brüssel zusammen, bei dem es sich namentlich um eine
Versöhnung der Gemäßigten mit den Radicalen handelte, die denn auch Angesichts
der drohenden Gefahr zu Stande kam. Die Hauptpunkte, über die man sich als
über künftige Ziele der Partei einigte, waren: Allmälige Herabsetzung des
Wahlcensus auf das vom Grundgesetz geforderte Minimum von zwanzig Gulden
Steuern als Grundsatz, dann, als unmittelbar mögliche Anwendung desselben
die Beifügung der Kapacitäten, welche diesen Census zahlen, zu den Wählern,
ferner Verringerung des Wahlcensus in d?n Städten, ohne ihn jedoch dem auf
dem platten Lande völlig gleichzustellen, endlich Unabhängigkeit der Civilgewalt
von dem Einfluß der Geistlichkeit, ausschließliche Autorität des Staates über
jeden vom Staat gewährten Unterricht ohne offizielle Betheiligung des Klerus
und möglichste Befreiung der Pfarrer vom Drucke der bischöflichen Gewalt.
Welche Kraft die Partei durch diese Einigung erlangt hatte, zeigten die
Wahlen von 1847, durch welche die Liberalen die Mehrheit in der zweiten


Grenzboten I V.-I8L7. Z7

Die Liberalen erwarteten jetzt, der König werde auf Rogiers Plan,
nach welchem ein liberales Ministerium gebildet und von diesem durch Aus¬
lösung der Kammern an das Land appellirt werden sollte, eingehen. Noch
schien aber dem besonnenen, genau rechnenden und gegen den bisher mehr
negativ ausgetretenen Liberalismus mißtrauischen König der Zeitpunkt zur
Ausführung jenes Planes nicht gekommen, und da es zu gleicher Zeit un¬
möglich schien, wieder mit einem aus dem Centrum genommenen Cabinet zu
regieren, so wurde de Theur, eines der Häupter der Klerikalen beauftragt,
ein Ministerium aus Männern seiner Partei zu bilden. Dies geschah im
Mürz 1846. Die Hoffnungen der Liberalen waren hierdurch dem Anschein nach
um sechs Jahre zurückverschlagen. Seit 1840 war im Sinne emweder der
gemäßigten Linken oder der gemäßigten neckten regiert worden, und jetzt
hatte man plötzlich wieder ein entschieden katholisches Cabinet. Das war ein
Anachronismus, erklärte entrüstet die liberale Presse. Es war aber vielmehr
ein Fortschritt, indem dadurch die Union endlich vollkommen zerrissen, der
Gegensatz der Parteien wieder in den Vordergrund gerückt und die Energie
der Liberalen zur äußersten Anstrengung getrieben wurde, die nun sehr
bald einen Sieg erfocht, wie sie sich noch keines gleichen hatte rühmen
können.

Die Linke sah ein, weshalb sie ihren Gegnern bisher fast immer das
Feld hatte überlassen müssen. Die einheitliche Organisation der Kirche und
ihrer Geistlichkeit gewährte der katholischen Partei den Vortheil einer gemein¬
samen Losung, bestimmter Ziele und einer strengen, dem Einzelwillen keinen
Spielraum lassenden Disciplin, während die liberale, in verschiedene Fractionen
gespalten, ihre Kräfte nutzlos versplitterte. Zur Berathung eines gemein¬
schaftlichen Feldzugsplanes trat jetzt, im Juni 1846, ein Kongreß der Libe¬
ralen aller Fractionen in Brüssel zusammen, bei dem es sich namentlich um eine
Versöhnung der Gemäßigten mit den Radicalen handelte, die denn auch Angesichts
der drohenden Gefahr zu Stande kam. Die Hauptpunkte, über die man sich als
über künftige Ziele der Partei einigte, waren: Allmälige Herabsetzung des
Wahlcensus auf das vom Grundgesetz geforderte Minimum von zwanzig Gulden
Steuern als Grundsatz, dann, als unmittelbar mögliche Anwendung desselben
die Beifügung der Kapacitäten, welche diesen Census zahlen, zu den Wählern,
ferner Verringerung des Wahlcensus in d?n Städten, ohne ihn jedoch dem auf
dem platten Lande völlig gleichzustellen, endlich Unabhängigkeit der Civilgewalt
von dem Einfluß der Geistlichkeit, ausschließliche Autorität des Staates über
jeden vom Staat gewährten Unterricht ohne offizielle Betheiligung des Klerus
und möglichste Befreiung der Pfarrer vom Drucke der bischöflichen Gewalt.
Welche Kraft die Partei durch diese Einigung erlangt hatte, zeigten die
Wahlen von 1847, durch welche die Liberalen die Mehrheit in der zweiten


Grenzboten I V.-I8L7. Z7
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[0457] Die Liberalen erwarteten jetzt, der König werde auf Rogiers Plan, nach welchem ein liberales Ministerium gebildet und von diesem durch Aus¬ lösung der Kammern an das Land appellirt werden sollte, eingehen. Noch schien aber dem besonnenen, genau rechnenden und gegen den bisher mehr negativ ausgetretenen Liberalismus mißtrauischen König der Zeitpunkt zur Ausführung jenes Planes nicht gekommen, und da es zu gleicher Zeit un¬ möglich schien, wieder mit einem aus dem Centrum genommenen Cabinet zu regieren, so wurde de Theur, eines der Häupter der Klerikalen beauftragt, ein Ministerium aus Männern seiner Partei zu bilden. Dies geschah im Mürz 1846. Die Hoffnungen der Liberalen waren hierdurch dem Anschein nach um sechs Jahre zurückverschlagen. Seit 1840 war im Sinne emweder der gemäßigten Linken oder der gemäßigten neckten regiert worden, und jetzt hatte man plötzlich wieder ein entschieden katholisches Cabinet. Das war ein Anachronismus, erklärte entrüstet die liberale Presse. Es war aber vielmehr ein Fortschritt, indem dadurch die Union endlich vollkommen zerrissen, der Gegensatz der Parteien wieder in den Vordergrund gerückt und die Energie der Liberalen zur äußersten Anstrengung getrieben wurde, die nun sehr bald einen Sieg erfocht, wie sie sich noch keines gleichen hatte rühmen können. Die Linke sah ein, weshalb sie ihren Gegnern bisher fast immer das Feld hatte überlassen müssen. Die einheitliche Organisation der Kirche und ihrer Geistlichkeit gewährte der katholischen Partei den Vortheil einer gemein¬ samen Losung, bestimmter Ziele und einer strengen, dem Einzelwillen keinen Spielraum lassenden Disciplin, während die liberale, in verschiedene Fractionen gespalten, ihre Kräfte nutzlos versplitterte. Zur Berathung eines gemein¬ schaftlichen Feldzugsplanes trat jetzt, im Juni 1846, ein Kongreß der Libe¬ ralen aller Fractionen in Brüssel zusammen, bei dem es sich namentlich um eine Versöhnung der Gemäßigten mit den Radicalen handelte, die denn auch Angesichts der drohenden Gefahr zu Stande kam. Die Hauptpunkte, über die man sich als über künftige Ziele der Partei einigte, waren: Allmälige Herabsetzung des Wahlcensus auf das vom Grundgesetz geforderte Minimum von zwanzig Gulden Steuern als Grundsatz, dann, als unmittelbar mögliche Anwendung desselben die Beifügung der Kapacitäten, welche diesen Census zahlen, zu den Wählern, ferner Verringerung des Wahlcensus in d?n Städten, ohne ihn jedoch dem auf dem platten Lande völlig gleichzustellen, endlich Unabhängigkeit der Civilgewalt von dem Einfluß der Geistlichkeit, ausschließliche Autorität des Staates über jeden vom Staat gewährten Unterricht ohne offizielle Betheiligung des Klerus und möglichste Befreiung der Pfarrer vom Drucke der bischöflichen Gewalt. Welche Kraft die Partei durch diese Einigung erlangt hatte, zeigten die Wahlen von 1847, durch welche die Liberalen die Mehrheit in der zweiten Grenzboten I V.-I8L7. Z7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/457>, abgerufen am 23.07.2024.