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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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richt, welches der Betheiligung der Geistlichkeit mehr Raum ließ, als sich mit
den Grundsätzen der Liberalen vertrug, fast einstimmig von den Kammern ge¬
nehmigt wurde. Inzwischen machte sich das Ministerium durch verschiedene
Maßregeln im Interesse des Handels und der Industrie verdient. Mit be¬
sonderer Rücksicht auf die Erwerbsthätigkeit Flanderns wurde 18i2 mit der
französischen Regierung ein Vertrag abgeschlossen und von den Kammern ge¬
nehmigt, nach welchem die belgischen Linnenwaaren bei ihrem Eingang in
Frankreich von der kurz zuvor angeordneten Zollerhöhung befreit bleiben, da¬
gegen aber eine Verminderung der belgischen Eingangszölle auf französische
Seidenstoffe und Weine eintreten sollte. Die Frankreich zugestandenen Zoll-
reductionen wurden bald nachher in Erwartung eines günstigen Ergebnisses
der mit dem Zollverein angeknüpften Unterhandlungen auch auf deutsche Weine
und Seidenwaaren ausgedehnt. Endlich trat im September 18ii ein Schiff-
fahrtS - und Handelsvertrag mit dem Zollverein ins Leben , der die Handels¬
verhältnisse Belgiens im Allgemeinen sehr zu Gunsten desselben veränderte.

Die Liberalen hatten ihre Kräfte sür die Wahlen gespart, welche -I8L3
stattfanden. Der Kampf war ein heißer. Nach dem Beispiele Brüssels traten
mehre größere Städte zu der Fahne deS Liberalismus, der auf diese Weise
beträchtlich an Terrain gewann. Die Folge war eine Cabinetsveränderung,
bei der jedoch, da keine Partei sich stark genug fühlte, das Staatsruder allein
in die Hand zu nehmen, Nothomb seinen Platz an der Spitze der Verwal¬
tung behauptete. Das Cabinet war in noch höherem Grade als das vorher¬
gehende ein Coalitionscabinet, es bestand aus Männern aller politischen
Farben. Dennoch war vorauszusagen, daß es nicht von langer Dauer
sein werde. Die Liberalen begannen sich auf Grund ihrer Erfolge mehr
und mehr zu fühlen. Naschen Schrittes eroberte die Partei nacheinander die
Städte bis herab zu den kleinsten, die wegen der Aehnlichkeit ihrer Verhält¬
nisse mit denen des platten Landes am längsten zu den Klerikalen gehalten
hatten. DaS System Nothomvö erlag zuerst bei den Wahlen der Provinzial-
räthe, dann bei denen der Gemeinderäthe und das Ministerium dankte in Folge
dessen im Juni 1845 ab. Erst nach langen'Mühen kam ein neues zu Stande. Der
liberale Van de Weyer wurde von seinem Gesandtenposten in London herüber¬
gerufen, um an der Spitze der Verwaltung die Union aufs Neue zu befestigen. Von
seinen Kollegen gehörten vier (d'Anethan, Malon, Muelcnaere und Deschamps)
der katholischen, zwei (Dupont und Hoffschmivt) der liberalen Partei an. Allein
das Cabinet konnte schon die erste Prüfung seiner Dauerhaftigkeit nicht be¬
stehen. Als der Premier die Absicht aussprach, in der Frage deS mittlern
Unterrichts das Recht der Staatsgewalt zu vertreten, zerfiel er mit seinen
klerikal gesinnten Amtsgenossen, von denen Malon der bedeutendste war, und
kehrte auf seinen diplomatischen Posten in England zurück.


richt, welches der Betheiligung der Geistlichkeit mehr Raum ließ, als sich mit
den Grundsätzen der Liberalen vertrug, fast einstimmig von den Kammern ge¬
nehmigt wurde. Inzwischen machte sich das Ministerium durch verschiedene
Maßregeln im Interesse des Handels und der Industrie verdient. Mit be¬
sonderer Rücksicht auf die Erwerbsthätigkeit Flanderns wurde 18i2 mit der
französischen Regierung ein Vertrag abgeschlossen und von den Kammern ge¬
nehmigt, nach welchem die belgischen Linnenwaaren bei ihrem Eingang in
Frankreich von der kurz zuvor angeordneten Zollerhöhung befreit bleiben, da¬
gegen aber eine Verminderung der belgischen Eingangszölle auf französische
Seidenstoffe und Weine eintreten sollte. Die Frankreich zugestandenen Zoll-
reductionen wurden bald nachher in Erwartung eines günstigen Ergebnisses
der mit dem Zollverein angeknüpften Unterhandlungen auch auf deutsche Weine
und Seidenwaaren ausgedehnt. Endlich trat im September 18ii ein Schiff-
fahrtS - und Handelsvertrag mit dem Zollverein ins Leben , der die Handels¬
verhältnisse Belgiens im Allgemeinen sehr zu Gunsten desselben veränderte.

Die Liberalen hatten ihre Kräfte sür die Wahlen gespart, welche -I8L3
stattfanden. Der Kampf war ein heißer. Nach dem Beispiele Brüssels traten
mehre größere Städte zu der Fahne deS Liberalismus, der auf diese Weise
beträchtlich an Terrain gewann. Die Folge war eine Cabinetsveränderung,
bei der jedoch, da keine Partei sich stark genug fühlte, das Staatsruder allein
in die Hand zu nehmen, Nothomb seinen Platz an der Spitze der Verwal¬
tung behauptete. Das Cabinet war in noch höherem Grade als das vorher¬
gehende ein Coalitionscabinet, es bestand aus Männern aller politischen
Farben. Dennoch war vorauszusagen, daß es nicht von langer Dauer
sein werde. Die Liberalen begannen sich auf Grund ihrer Erfolge mehr
und mehr zu fühlen. Naschen Schrittes eroberte die Partei nacheinander die
Städte bis herab zu den kleinsten, die wegen der Aehnlichkeit ihrer Verhält¬
nisse mit denen des platten Landes am längsten zu den Klerikalen gehalten
hatten. DaS System Nothomvö erlag zuerst bei den Wahlen der Provinzial-
räthe, dann bei denen der Gemeinderäthe und das Ministerium dankte in Folge
dessen im Juni 1845 ab. Erst nach langen'Mühen kam ein neues zu Stande. Der
liberale Van de Weyer wurde von seinem Gesandtenposten in London herüber¬
gerufen, um an der Spitze der Verwaltung die Union aufs Neue zu befestigen. Von
seinen Kollegen gehörten vier (d'Anethan, Malon, Muelcnaere und Deschamps)
der katholischen, zwei (Dupont und Hoffschmivt) der liberalen Partei an. Allein
das Cabinet konnte schon die erste Prüfung seiner Dauerhaftigkeit nicht be¬
stehen. Als der Premier die Absicht aussprach, in der Frage deS mittlern
Unterrichts das Recht der Staatsgewalt zu vertreten, zerfiel er mit seinen
klerikal gesinnten Amtsgenossen, von denen Malon der bedeutendste war, und
kehrte auf seinen diplomatischen Posten in England zurück.


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[0456] richt, welches der Betheiligung der Geistlichkeit mehr Raum ließ, als sich mit den Grundsätzen der Liberalen vertrug, fast einstimmig von den Kammern ge¬ nehmigt wurde. Inzwischen machte sich das Ministerium durch verschiedene Maßregeln im Interesse des Handels und der Industrie verdient. Mit be¬ sonderer Rücksicht auf die Erwerbsthätigkeit Flanderns wurde 18i2 mit der französischen Regierung ein Vertrag abgeschlossen und von den Kammern ge¬ nehmigt, nach welchem die belgischen Linnenwaaren bei ihrem Eingang in Frankreich von der kurz zuvor angeordneten Zollerhöhung befreit bleiben, da¬ gegen aber eine Verminderung der belgischen Eingangszölle auf französische Seidenstoffe und Weine eintreten sollte. Die Frankreich zugestandenen Zoll- reductionen wurden bald nachher in Erwartung eines günstigen Ergebnisses der mit dem Zollverein angeknüpften Unterhandlungen auch auf deutsche Weine und Seidenwaaren ausgedehnt. Endlich trat im September 18ii ein Schiff- fahrtS - und Handelsvertrag mit dem Zollverein ins Leben , der die Handels¬ verhältnisse Belgiens im Allgemeinen sehr zu Gunsten desselben veränderte. Die Liberalen hatten ihre Kräfte sür die Wahlen gespart, welche -I8L3 stattfanden. Der Kampf war ein heißer. Nach dem Beispiele Brüssels traten mehre größere Städte zu der Fahne deS Liberalismus, der auf diese Weise beträchtlich an Terrain gewann. Die Folge war eine Cabinetsveränderung, bei der jedoch, da keine Partei sich stark genug fühlte, das Staatsruder allein in die Hand zu nehmen, Nothomb seinen Platz an der Spitze der Verwal¬ tung behauptete. Das Cabinet war in noch höherem Grade als das vorher¬ gehende ein Coalitionscabinet, es bestand aus Männern aller politischen Farben. Dennoch war vorauszusagen, daß es nicht von langer Dauer sein werde. Die Liberalen begannen sich auf Grund ihrer Erfolge mehr und mehr zu fühlen. Naschen Schrittes eroberte die Partei nacheinander die Städte bis herab zu den kleinsten, die wegen der Aehnlichkeit ihrer Verhält¬ nisse mit denen des platten Landes am längsten zu den Klerikalen gehalten hatten. DaS System Nothomvö erlag zuerst bei den Wahlen der Provinzial- räthe, dann bei denen der Gemeinderäthe und das Ministerium dankte in Folge dessen im Juni 1845 ab. Erst nach langen'Mühen kam ein neues zu Stande. Der liberale Van de Weyer wurde von seinem Gesandtenposten in London herüber¬ gerufen, um an der Spitze der Verwaltung die Union aufs Neue zu befestigen. Von seinen Kollegen gehörten vier (d'Anethan, Malon, Muelcnaere und Deschamps) der katholischen, zwei (Dupont und Hoffschmivt) der liberalen Partei an. Allein das Cabinet konnte schon die erste Prüfung seiner Dauerhaftigkeit nicht be¬ stehen. Als der Premier die Absicht aussprach, in der Frage deS mittlern Unterrichts das Recht der Staatsgewalt zu vertreten, zerfiel er mit seinen klerikal gesinnten Amtsgenossen, von denen Malon der bedeutendste war, und kehrte auf seinen diplomatischen Posten in England zurück.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/456>, abgerufen am 23.07.2024.