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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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wahrend der Völkerwanderung schreibt Ammianus Marcellinus: "Wir wenden
uns zu dem müßigen, unthätigen Volke. Dieses verwendet sein ganzes Leben
aus Wein, Würfelspiel, Ausschweifungen und Schauspiele; sein Tempel und
seine Wohnung/ sein Versammlungsplatz und der Inbegriff aller seiner Wünsche
ist der Circus Marinus. Ueberall auf den Marktplätzen, Kreuzwegen und
Straßen sieht man diese Leute haufenweise beieinander stehen und unter sich
mit heftigem Gezänke disputiren. Diejenigen unter ihnen, welche lange genug
gelebt haben, und deshalb Ansehen genießen, schreien dann trotz ihrer weißen
Haare und Runzeln, der Staat könne nicht bestehen, wenn nicht bei ver
nächsten Wettfahrt irgend ein Wagenlenker zuerst aus den Schranken heraus¬
sprengen, ober mit seinen Nebenpferden nicht eng genug an der Spitzsäule
-des Circus umlenken werde. An-V während ihre Faulheit und Nachlässigkeit
so groß ist, so eilen doch -alle, sobald der erwünschte Tag der Wettfahrten
anbricht, ehe noch das Tagesgestirn aufgeht, über Hals und Kopf nach dem
Circus, als ob sie die wetteifernden Wagen an Schnelligkeit übertreffen wollten;
ja die Meisten bringen die vorhergehenden Nächte schlaflos zu, aus Sorge"
über den Ausgang ihrer Wünsche. Wenn sie dann die theatralischen Vor¬
stellungen besuchen, wird jeder Schauspieler ausgezischt, der sich nicht die Gunst
des Pöbels durch Geld erkauft hat. Fehlt endlich auch dieser Lärm, so schreien
sie "ach Art VeS alten taurischen Volkes, man müsse die Fremden aus der
Stadt treiben, ohne deren Hilfe sie doch nie bestehen konnte"." So lebte u"d
dachte also der Hauptbestandtheil des Volkes, während die rauhe Faust der
Barbaren an alle Thore des morschen Reiches pochte, und die Söhne der
Provinzen unter fremden Anführern ihr Blut für dessen Rettung vergossen!

stifteten also die AuStheilungen von Weizen und andern Victualien
wenig Gutes,, so gab eS unter den Kaisern noch eine Art milder Stif¬
tung für Kinder, die eher ein WohUhätigkeitSinstitut genannt werden kau",
we"n sie auch ihren Ursprung ebenfalls weniger menschlichem Mitgefühl für
die Armuth, als einem politischen Beweggrunde verdankte. Sie gehörte näm¬
lich mit zu den vergeblichen Versuchen der ersten Kaiser, das Sinken des sitt¬
lichen Lebens zu hemmen und besonders durch Belohnung der rechtmäßigen
Ehe und des Kinderreichthums die bedenkliche Abnahme der freien römische"
Bevölkerung aufzuhalte". scho" Augustus Halle eine Menge äußerer Ehre"
und Vortheile durch sein bekanntes Ehegesetz den Verheirateten zugewendet,
und unter anderem einmal bei einer Revision der städtischen Regionen jedem
Familienvater aus dem Volke für jedes Kind 3S Thaler auszahle" lassen.
Nerva und besonders Trajan (der außerdem Ü000 Kinder durch Aufnahme
unter die Gelreidecmpfänger versorgte) stifteten mehre Fonds von Capitalien,
von deren Zinse" Kinder sreigeborener Eltern Unterstützung erhielten, und
lehnten diese Wohlihätigkeit aus ganz Italien aus. Spätere Kaiser, vorzüg-


wahrend der Völkerwanderung schreibt Ammianus Marcellinus: „Wir wenden
uns zu dem müßigen, unthätigen Volke. Dieses verwendet sein ganzes Leben
aus Wein, Würfelspiel, Ausschweifungen und Schauspiele; sein Tempel und
seine Wohnung/ sein Versammlungsplatz und der Inbegriff aller seiner Wünsche
ist der Circus Marinus. Ueberall auf den Marktplätzen, Kreuzwegen und
Straßen sieht man diese Leute haufenweise beieinander stehen und unter sich
mit heftigem Gezänke disputiren. Diejenigen unter ihnen, welche lange genug
gelebt haben, und deshalb Ansehen genießen, schreien dann trotz ihrer weißen
Haare und Runzeln, der Staat könne nicht bestehen, wenn nicht bei ver
nächsten Wettfahrt irgend ein Wagenlenker zuerst aus den Schranken heraus¬
sprengen, ober mit seinen Nebenpferden nicht eng genug an der Spitzsäule
-des Circus umlenken werde. An-V während ihre Faulheit und Nachlässigkeit
so groß ist, so eilen doch -alle, sobald der erwünschte Tag der Wettfahrten
anbricht, ehe noch das Tagesgestirn aufgeht, über Hals und Kopf nach dem
Circus, als ob sie die wetteifernden Wagen an Schnelligkeit übertreffen wollten;
ja die Meisten bringen die vorhergehenden Nächte schlaflos zu, aus Sorge»
über den Ausgang ihrer Wünsche. Wenn sie dann die theatralischen Vor¬
stellungen besuchen, wird jeder Schauspieler ausgezischt, der sich nicht die Gunst
des Pöbels durch Geld erkauft hat. Fehlt endlich auch dieser Lärm, so schreien
sie »ach Art VeS alten taurischen Volkes, man müsse die Fremden aus der
Stadt treiben, ohne deren Hilfe sie doch nie bestehen konnte»." So lebte u«d
dachte also der Hauptbestandtheil des Volkes, während die rauhe Faust der
Barbaren an alle Thore des morschen Reiches pochte, und die Söhne der
Provinzen unter fremden Anführern ihr Blut für dessen Rettung vergossen!

stifteten also die AuStheilungen von Weizen und andern Victualien
wenig Gutes,, so gab eS unter den Kaisern noch eine Art milder Stif¬
tung für Kinder, die eher ein WohUhätigkeitSinstitut genannt werden kau»,
we»n sie auch ihren Ursprung ebenfalls weniger menschlichem Mitgefühl für
die Armuth, als einem politischen Beweggrunde verdankte. Sie gehörte näm¬
lich mit zu den vergeblichen Versuchen der ersten Kaiser, das Sinken des sitt¬
lichen Lebens zu hemmen und besonders durch Belohnung der rechtmäßigen
Ehe und des Kinderreichthums die bedenkliche Abnahme der freien römische»
Bevölkerung aufzuhalte». scho» Augustus Halle eine Menge äußerer Ehre»
und Vortheile durch sein bekanntes Ehegesetz den Verheirateten zugewendet,
und unter anderem einmal bei einer Revision der städtischen Regionen jedem
Familienvater aus dem Volke für jedes Kind 3S Thaler auszahle» lassen.
Nerva und besonders Trajan (der außerdem Ü000 Kinder durch Aufnahme
unter die Gelreidecmpfänger versorgte) stifteten mehre Fonds von Capitalien,
von deren Zinse» Kinder sreigeborener Eltern Unterstützung erhielten, und
lehnten diese Wohlihätigkeit aus ganz Italien aus. Spätere Kaiser, vorzüg-


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[0439] wahrend der Völkerwanderung schreibt Ammianus Marcellinus: „Wir wenden uns zu dem müßigen, unthätigen Volke. Dieses verwendet sein ganzes Leben aus Wein, Würfelspiel, Ausschweifungen und Schauspiele; sein Tempel und seine Wohnung/ sein Versammlungsplatz und der Inbegriff aller seiner Wünsche ist der Circus Marinus. Ueberall auf den Marktplätzen, Kreuzwegen und Straßen sieht man diese Leute haufenweise beieinander stehen und unter sich mit heftigem Gezänke disputiren. Diejenigen unter ihnen, welche lange genug gelebt haben, und deshalb Ansehen genießen, schreien dann trotz ihrer weißen Haare und Runzeln, der Staat könne nicht bestehen, wenn nicht bei ver nächsten Wettfahrt irgend ein Wagenlenker zuerst aus den Schranken heraus¬ sprengen, ober mit seinen Nebenpferden nicht eng genug an der Spitzsäule -des Circus umlenken werde. An-V während ihre Faulheit und Nachlässigkeit so groß ist, so eilen doch -alle, sobald der erwünschte Tag der Wettfahrten anbricht, ehe noch das Tagesgestirn aufgeht, über Hals und Kopf nach dem Circus, als ob sie die wetteifernden Wagen an Schnelligkeit übertreffen wollten; ja die Meisten bringen die vorhergehenden Nächte schlaflos zu, aus Sorge» über den Ausgang ihrer Wünsche. Wenn sie dann die theatralischen Vor¬ stellungen besuchen, wird jeder Schauspieler ausgezischt, der sich nicht die Gunst des Pöbels durch Geld erkauft hat. Fehlt endlich auch dieser Lärm, so schreien sie »ach Art VeS alten taurischen Volkes, man müsse die Fremden aus der Stadt treiben, ohne deren Hilfe sie doch nie bestehen konnte»." So lebte u«d dachte also der Hauptbestandtheil des Volkes, während die rauhe Faust der Barbaren an alle Thore des morschen Reiches pochte, und die Söhne der Provinzen unter fremden Anführern ihr Blut für dessen Rettung vergossen! stifteten also die AuStheilungen von Weizen und andern Victualien wenig Gutes,, so gab eS unter den Kaisern noch eine Art milder Stif¬ tung für Kinder, die eher ein WohUhätigkeitSinstitut genannt werden kau», we»n sie auch ihren Ursprung ebenfalls weniger menschlichem Mitgefühl für die Armuth, als einem politischen Beweggrunde verdankte. Sie gehörte näm¬ lich mit zu den vergeblichen Versuchen der ersten Kaiser, das Sinken des sitt¬ lichen Lebens zu hemmen und besonders durch Belohnung der rechtmäßigen Ehe und des Kinderreichthums die bedenkliche Abnahme der freien römische» Bevölkerung aufzuhalte». scho» Augustus Halle eine Menge äußerer Ehre» und Vortheile durch sein bekanntes Ehegesetz den Verheirateten zugewendet, und unter anderem einmal bei einer Revision der städtischen Regionen jedem Familienvater aus dem Volke für jedes Kind 3S Thaler auszahle» lassen. Nerva und besonders Trajan (der außerdem Ü000 Kinder durch Aufnahme unter die Gelreidecmpfänger versorgte) stifteten mehre Fonds von Capitalien, von deren Zinse» Kinder sreigeborener Eltern Unterstützung erhielten, und lehnten diese Wohlihätigkeit aus ganz Italien aus. Spätere Kaiser, vorzüg-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/439>, abgerufen am 23.07.2024.