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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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lich die Antonine folgten diesem Beispiele, machten neue Capitalschenkunn.er,
und nannten diese Stiftungen (schon echt modern) nach dem Namen ihrer Ge¬
mahlinnen. Auch Privatleute vermachten zuweilen einzelnen Städten Summen
zu demselben Zwecke; so schenkte der jüngere Plinius seiner Vaterstadt Können
27,000 Thlr. zu einer Stiftung für Knaben und Mädchen und eine gewisse
Makrina den Terracinensern 55,000 Thlr. zur Unterstützung 100 armer Kinder.
Diese Hilfe traf zum großem Theil die Knaben und reichte bei diesen bis
zum -18., bei den Mädchen bis zum -ki. Jahre; sie bestand theils in Getreide,
theils in Geld, so daß auf einen Knaben durchschnittlich 1 Thlr. im Monate,
aus das Mädchen 2/4 Thlr. kam. Daß aber trotz dieser sprechenden Beweise
der wohlthätige Sinn jener achtungswerthen Stifter noch weit entfernt war
von der weitherzigern christlichen Armenpflege und Nächstenliebe, das zeigt sich
besonders hierin, daß man das allernächst Liegende übersah, baß man wol für
die heranwachsende jüngere Generation sorgte, aber ohne besondere Rücksicht
auf die Waisen zu nehmen und ohne sich der unglücklichen Geschöpfe zu er¬
barmen, welche mütterliche Scham oder väterliche Hartherzigkeit von sich stieß
und an Tempeln und öffentlichen Plätzen oder an den Thüren reicher Leute aus¬
setzte. Besonders die Milchsäule auf dem Gemüsemarkte und der uralte Fei¬
genbaum am Palatin, der Sage nach der einstige Rettungsanker der Zwillings'
Stifter Roms, waren diejenigen Plätze, an denen man am häufigsten aus daS
Mitleid der Vorübergehenden speculirte. Diese Grausamkeit verbot kein Ge¬
setz; selbst der erste christliche Kaiser machte nur einen Anfang zu ihrer Ab¬
schaffung, indem er den Eltern alle Rechte auf ihre ausgesetzten Kinder ab¬
sprach und ihnen jede Hoffnung nahm, sie einst wieder zu bekommen, und erst
Valentinian und Gratian geboten jedem, seine Kinder zu ernähren und beleg¬
ten die Aussetzung mit harten Strafen. Selten war wol das Schicksal dieser
Findelkinder, auch wenn sie Pflegeeltern fanden, zuletzt ein so heiteres, wie
es bei den Komikern, welche das Verhältniß oft zur Schürzung deS drama¬
tischen Knotens benutzen, geschildert wird. Leiber gar oft schlich unter dem
Mantel der Barmherzigkeit die schnödeste Gewinnsucht umher, und suchte sich
grabe die Krüppel unter den Kleinen aus, oder verstümmelte wol gar die wohl¬
gestalteten zu Hause -- um sie später für sich betteln zu lassen und ihre Er-
zichungskvsten vervielfacht wieder einzuziehen; denn diese Unglücklichen wurden
ja nach dem Gesetze alle - Sklaven! Doch dies hat uns bereits in daS Ge¬
biet der untersten Classe der römischen Proletarier, der Bettler von Profession,
geführt. Die Zahl derselben stieg begreiflich mit dem Zunehmen des Prole¬
tariats überhaupt. Es gab in der Kaiserzeit Tausende von freien Römern
und flüchtigen Sklaven, die kein anderes Obdach hatten, als die öffentliche"
Hallen und Säulengänge der Tempel und die ungeheuren Räume der Wirken
und Amphitheater, "deren müder Nacken" -- Worte Senecaö -- "auf einem


lich die Antonine folgten diesem Beispiele, machten neue Capitalschenkunn.er,
und nannten diese Stiftungen (schon echt modern) nach dem Namen ihrer Ge¬
mahlinnen. Auch Privatleute vermachten zuweilen einzelnen Städten Summen
zu demselben Zwecke; so schenkte der jüngere Plinius seiner Vaterstadt Können
27,000 Thlr. zu einer Stiftung für Knaben und Mädchen und eine gewisse
Makrina den Terracinensern 55,000 Thlr. zur Unterstützung 100 armer Kinder.
Diese Hilfe traf zum großem Theil die Knaben und reichte bei diesen bis
zum -18., bei den Mädchen bis zum -ki. Jahre; sie bestand theils in Getreide,
theils in Geld, so daß auf einen Knaben durchschnittlich 1 Thlr. im Monate,
aus das Mädchen 2/4 Thlr. kam. Daß aber trotz dieser sprechenden Beweise
der wohlthätige Sinn jener achtungswerthen Stifter noch weit entfernt war
von der weitherzigern christlichen Armenpflege und Nächstenliebe, das zeigt sich
besonders hierin, daß man das allernächst Liegende übersah, baß man wol für
die heranwachsende jüngere Generation sorgte, aber ohne besondere Rücksicht
auf die Waisen zu nehmen und ohne sich der unglücklichen Geschöpfe zu er¬
barmen, welche mütterliche Scham oder väterliche Hartherzigkeit von sich stieß
und an Tempeln und öffentlichen Plätzen oder an den Thüren reicher Leute aus¬
setzte. Besonders die Milchsäule auf dem Gemüsemarkte und der uralte Fei¬
genbaum am Palatin, der Sage nach der einstige Rettungsanker der Zwillings'
Stifter Roms, waren diejenigen Plätze, an denen man am häufigsten aus daS
Mitleid der Vorübergehenden speculirte. Diese Grausamkeit verbot kein Ge¬
setz; selbst der erste christliche Kaiser machte nur einen Anfang zu ihrer Ab¬
schaffung, indem er den Eltern alle Rechte auf ihre ausgesetzten Kinder ab¬
sprach und ihnen jede Hoffnung nahm, sie einst wieder zu bekommen, und erst
Valentinian und Gratian geboten jedem, seine Kinder zu ernähren und beleg¬
ten die Aussetzung mit harten Strafen. Selten war wol das Schicksal dieser
Findelkinder, auch wenn sie Pflegeeltern fanden, zuletzt ein so heiteres, wie
es bei den Komikern, welche das Verhältniß oft zur Schürzung deS drama¬
tischen Knotens benutzen, geschildert wird. Leiber gar oft schlich unter dem
Mantel der Barmherzigkeit die schnödeste Gewinnsucht umher, und suchte sich
grabe die Krüppel unter den Kleinen aus, oder verstümmelte wol gar die wohl¬
gestalteten zu Hause — um sie später für sich betteln zu lassen und ihre Er-
zichungskvsten vervielfacht wieder einzuziehen; denn diese Unglücklichen wurden
ja nach dem Gesetze alle - Sklaven! Doch dies hat uns bereits in daS Ge¬
biet der untersten Classe der römischen Proletarier, der Bettler von Profession,
geführt. Die Zahl derselben stieg begreiflich mit dem Zunehmen des Prole¬
tariats überhaupt. Es gab in der Kaiserzeit Tausende von freien Römern
und flüchtigen Sklaven, die kein anderes Obdach hatten, als die öffentliche»
Hallen und Säulengänge der Tempel und die ungeheuren Räume der Wirken
und Amphitheater, „deren müder Nacken" — Worte Senecaö — „auf einem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/440>, abgerufen am 23.07.2024.