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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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unerforschlich findet, und der zudringlichen Religiosität, die dem lieben Gott
in die Karten gesehn hat und genau zu erklären weiß, was jeder Schritt
bedeute. Die erstere Form des Glaubens verträgt sich nicht nur mit der Poesie,
sie gibt ihr erst die höhere Weihe, die letztere dagegen unterdrückt das reale
Leben mit seinen Conflicten zu Gunsten einer vermeintlichen supra aturaiistischen
Weltordnung, die sie in letzter Instanz aus der bloßen Einbildung nimmt.
Diese Form ist zwar an und für sich nicht unfähig zur Poesie,'wie das Cal-
deron beweist, aber nur in einer Zeit, wo jener Theismus wirklich das
herrschende Lebensmotiv, also im gewissen Sinn wieder eine Realität ist,
nicht in unserer realistischen Periode, wo man den Sinnen, dem Verstand
und dem Herzen sich vergebens bemühn würde einzureden, daß die Wirklich¬
keit eine bloße Illusion sei. -- Ein lutherisch-evangelischer Pfarrer, Dr. Lie be¬
tritt in Potsdam, hat eine Abhandlung über eine heilige Natur- und Kunst-
nnschauung in und gemäß der Schrift mit einem Ercurs begleitet über die
Kunstrichtung Goethes und seiner Zeit, der sich -- übrigens in höflichen
Formen, was man bei dieser Schule anerkennen muß -- ziemlich bitter über
den abstracten Cultus der Schönheit beschwert, in welchem Goethe befangen
war. Was er sagt, ist keineswegs ganz unrichtig, es lag in dem Princip
unserer Kunstperiode ein großer Mangel. Aber wir verstehn nicht recht, was
das neumodisch lutherische Christenthum für einen Zweck damit verbindet, das
Publicum fortwährend daran zu erinnern, daß fast alle großen Dichter,
Künstler, Philosophen, Gelehrte u. f. w. Deutschlands diametral das Gegen¬
theil von dem empfunden und gelehrt haben, was es selber lehrt und empfindet.
Die Sache ist vollkommen richtig, aber wem wird damit ein Paupertäts-
zeuguiß ausgestellt? jenen Männern, ak!f die Deutschland noch immer stolz ist,
oder diesen neumodischen Aposteln, welche als Beleg für die Stärke ihres
Glaubens höchstens die Armuth ihres Geistes ausweisen können. --

In einer andern kleinen Schrift (Jena, Hochhausen) gibt Eckardt
Anleitung dichterische Meisterwerke ans eine Geist und Herz bildende Weise
zu lesen und sich dauernd anzueignen. Viele von den darin mitgetheilten
Bemerkungen sind ganz richtig, aber über die Pedanterie eines Mannes, der
für Shakespeare, Goethe und Schiller warme Verehrung empfindet, muß man
doch erstaunen. -- Noch mehr erstaunt man im 7. und 8. Heftchen der Er¬
läuterungen zu den deutschen Klassikern (Jena, Hochhausen) über
Eckardtö Kommentar zum Fiesko- Daß man in den frühern Dichtungen
Schillers, die als'Ganzes durch und durch verfehlt sind, auf die einzelnen
Stellen hinweist, in denen die geniale .Kraft deS Dichters mitunter stärker alö
in den spätern Dramen hervortritt, ist in der Ordnung, aber nach Eckardts
Kommentar sollte man annehmen, es handele sich hier um ein Meisterstück,
in welchem die weisesten und tiefsinnigsten Ideen nachzuweisen seien. So haben


unerforschlich findet, und der zudringlichen Religiosität, die dem lieben Gott
in die Karten gesehn hat und genau zu erklären weiß, was jeder Schritt
bedeute. Die erstere Form des Glaubens verträgt sich nicht nur mit der Poesie,
sie gibt ihr erst die höhere Weihe, die letztere dagegen unterdrückt das reale
Leben mit seinen Conflicten zu Gunsten einer vermeintlichen supra aturaiistischen
Weltordnung, die sie in letzter Instanz aus der bloßen Einbildung nimmt.
Diese Form ist zwar an und für sich nicht unfähig zur Poesie,'wie das Cal-
deron beweist, aber nur in einer Zeit, wo jener Theismus wirklich das
herrschende Lebensmotiv, also im gewissen Sinn wieder eine Realität ist,
nicht in unserer realistischen Periode, wo man den Sinnen, dem Verstand
und dem Herzen sich vergebens bemühn würde einzureden, daß die Wirklich¬
keit eine bloße Illusion sei. — Ein lutherisch-evangelischer Pfarrer, Dr. Lie be¬
tritt in Potsdam, hat eine Abhandlung über eine heilige Natur- und Kunst-
nnschauung in und gemäß der Schrift mit einem Ercurs begleitet über die
Kunstrichtung Goethes und seiner Zeit, der sich — übrigens in höflichen
Formen, was man bei dieser Schule anerkennen muß — ziemlich bitter über
den abstracten Cultus der Schönheit beschwert, in welchem Goethe befangen
war. Was er sagt, ist keineswegs ganz unrichtig, es lag in dem Princip
unserer Kunstperiode ein großer Mangel. Aber wir verstehn nicht recht, was
das neumodisch lutherische Christenthum für einen Zweck damit verbindet, das
Publicum fortwährend daran zu erinnern, daß fast alle großen Dichter,
Künstler, Philosophen, Gelehrte u. f. w. Deutschlands diametral das Gegen¬
theil von dem empfunden und gelehrt haben, was es selber lehrt und empfindet.
Die Sache ist vollkommen richtig, aber wem wird damit ein Paupertäts-
zeuguiß ausgestellt? jenen Männern, ak!f die Deutschland noch immer stolz ist,
oder diesen neumodischen Aposteln, welche als Beleg für die Stärke ihres
Glaubens höchstens die Armuth ihres Geistes ausweisen können. —

In einer andern kleinen Schrift (Jena, Hochhausen) gibt Eckardt
Anleitung dichterische Meisterwerke ans eine Geist und Herz bildende Weise
zu lesen und sich dauernd anzueignen. Viele von den darin mitgetheilten
Bemerkungen sind ganz richtig, aber über die Pedanterie eines Mannes, der
für Shakespeare, Goethe und Schiller warme Verehrung empfindet, muß man
doch erstaunen. — Noch mehr erstaunt man im 7. und 8. Heftchen der Er¬
läuterungen zu den deutschen Klassikern (Jena, Hochhausen) über
Eckardtö Kommentar zum Fiesko- Daß man in den frühern Dichtungen
Schillers, die als'Ganzes durch und durch verfehlt sind, auf die einzelnen
Stellen hinweist, in denen die geniale .Kraft deS Dichters mitunter stärker alö
in den spätern Dramen hervortritt, ist in der Ordnung, aber nach Eckardts
Kommentar sollte man annehmen, es handele sich hier um ein Meisterstück,
in welchem die weisesten und tiefsinnigsten Ideen nachzuweisen seien. So haben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/424>, abgerufen am 23.07.2024.