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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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ist die Zumuthung nicht so gewaltsam, das Princip der Ehre geberdet sich
zwar sehr eigensinnig, aber an sich hat es allgemein menschliche Berechtigung.
Am meisten ist es Auerbach gelungen, die Einheit der Stimmung festzuhalten,
weil er daS sittliche Motiv, aus dem das Schicksal entspringt, offen zum
Gegenstand seiner Kritik macht. Gleichviel also ob wir ihm beipflichten oder
nicht, wir wissen, um was es sich handelt. Dabei kam ihm freilich die Form des
Romans zu Hilfe, denn durch Beschreibung und Reflexion läßt sich vieles
verständlich machen, was uns beim bloßen Ansehn nicht einleuchten will.

Darum ist auch künstlerisch betrachtet Otto Ludwigs Roman: Zwischen
Himmel und Erde gegen den Erbförster ein großer Fortschritt. Das Talent
des Dichters hat in dem breitern Nahmen Gelegenheit, sich mit seiner ganzen
Sinnigkeit und Kraft zu entfalten. Freilich ist der Eindruck auch hier ein
peinlicher. Abgesehn davon, daß es unerlaubt sein dürfte, den Leser längere
Zeit hindurch im strengsten Sinne des Worts zwischen Himmel und Erde d. h.
im Zustand deö greulichsten Schwindels zu halten, ist die Breite, mit der ein
Lump der gemeinsten Sorte sich erplicirt, in keinem Verhältniß zu dem Po¬
sitiven des Romans, und die Entwicklung des Knotens wird nur wenig Leser
befriedigen. Mochte auch die Entsagung durch die wilden Scenen, die voran¬
gegangen sind, mit Nothwendigkeit geboten sein, die Form der Entsagung, wie
sie der Dichter schildert, verstößt so gegen alle Analogien der menschlichen
Natur, daß man sie nur bei einem Mann begreift, der neben seiner Tugend
und Charakterstärke zugleich ein wunderlicher Heiliger, ein Original ist. In
der That hätte Otto Ludwig nur kleine Nuancen hinzufügen dürfen, um an
Apollonius auch die komische Seite hervortreten zu lassen; er durfte es nicht,
weil er damit die trübe und ernste Stimmung seines Romans beeinträchtigt
hätte, aber die natürliche Folge ist, daß wir bei seinem Gemälde etwas ver¬
missen.

Mit einem Wort, die einzige poetische Form, durch welche dieser
Realismus seine Berechtigung in der Kunst erwirbt, ist der Humor; der
Dichter muß im Stande sein, die Unreife der Bildung, die er darstellt, unserer
Anschauungsweise dadurch zugänglich zu machen, daß er den komischen
Contrast hervorhebt, ohne dadurch den innern Ernst seiner Erzählung abzu¬
schwächen. Es ist auch die einzige Form, in der wir uns Kinder verständlich
wachen. In den kleinen Leiden, in den unreife" Leidenschaften der Kinder
liegt oft so viel sinniges und Reizendes, daß nur ein rohes Gemüth sie an
dem nüchternen Rationalismus seines eigenen Alters mißt. Wer für die Ver¬
schämtheit, für die innern Kämpfe, für die Träume und Einbildungen der Kindheit
keinen Sinn hat, wird in die tiefern Geheimnisse der Poesie überhaupt wenig ein¬
gedrungen sein. Aber nur die tolle Sentimentalität unseres Jahrhunderts hat
eS möglich gemacht, dieses unentwickelte Kleinleben der Seele in gleichem Ernst


ist die Zumuthung nicht so gewaltsam, das Princip der Ehre geberdet sich
zwar sehr eigensinnig, aber an sich hat es allgemein menschliche Berechtigung.
Am meisten ist es Auerbach gelungen, die Einheit der Stimmung festzuhalten,
weil er daS sittliche Motiv, aus dem das Schicksal entspringt, offen zum
Gegenstand seiner Kritik macht. Gleichviel also ob wir ihm beipflichten oder
nicht, wir wissen, um was es sich handelt. Dabei kam ihm freilich die Form des
Romans zu Hilfe, denn durch Beschreibung und Reflexion läßt sich vieles
verständlich machen, was uns beim bloßen Ansehn nicht einleuchten will.

Darum ist auch künstlerisch betrachtet Otto Ludwigs Roman: Zwischen
Himmel und Erde gegen den Erbförster ein großer Fortschritt. Das Talent
des Dichters hat in dem breitern Nahmen Gelegenheit, sich mit seiner ganzen
Sinnigkeit und Kraft zu entfalten. Freilich ist der Eindruck auch hier ein
peinlicher. Abgesehn davon, daß es unerlaubt sein dürfte, den Leser längere
Zeit hindurch im strengsten Sinne des Worts zwischen Himmel und Erde d. h.
im Zustand deö greulichsten Schwindels zu halten, ist die Breite, mit der ein
Lump der gemeinsten Sorte sich erplicirt, in keinem Verhältniß zu dem Po¬
sitiven des Romans, und die Entwicklung des Knotens wird nur wenig Leser
befriedigen. Mochte auch die Entsagung durch die wilden Scenen, die voran¬
gegangen sind, mit Nothwendigkeit geboten sein, die Form der Entsagung, wie
sie der Dichter schildert, verstößt so gegen alle Analogien der menschlichen
Natur, daß man sie nur bei einem Mann begreift, der neben seiner Tugend
und Charakterstärke zugleich ein wunderlicher Heiliger, ein Original ist. In
der That hätte Otto Ludwig nur kleine Nuancen hinzufügen dürfen, um an
Apollonius auch die komische Seite hervortreten zu lassen; er durfte es nicht,
weil er damit die trübe und ernste Stimmung seines Romans beeinträchtigt
hätte, aber die natürliche Folge ist, daß wir bei seinem Gemälde etwas ver¬
missen.

Mit einem Wort, die einzige poetische Form, durch welche dieser
Realismus seine Berechtigung in der Kunst erwirbt, ist der Humor; der
Dichter muß im Stande sein, die Unreife der Bildung, die er darstellt, unserer
Anschauungsweise dadurch zugänglich zu machen, daß er den komischen
Contrast hervorhebt, ohne dadurch den innern Ernst seiner Erzählung abzu¬
schwächen. Es ist auch die einzige Form, in der wir uns Kinder verständlich
wachen. In den kleinen Leiden, in den unreife» Leidenschaften der Kinder
liegt oft so viel sinniges und Reizendes, daß nur ein rohes Gemüth sie an
dem nüchternen Rationalismus seines eigenen Alters mißt. Wer für die Ver¬
schämtheit, für die innern Kämpfe, für die Träume und Einbildungen der Kindheit
keinen Sinn hat, wird in die tiefern Geheimnisse der Poesie überhaupt wenig ein¬
gedrungen sein. Aber nur die tolle Sentimentalität unseres Jahrhunderts hat
eS möglich gemacht, dieses unentwickelte Kleinleben der Seele in gleichem Ernst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/415>, abgerufen am 23.07.2024.