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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Raffinements erschien, wie z. B. das beliebte Motiv, das Schicksal aus der
Blasirtheit oder aus der Sentimentalität herzuleiten. Allein wie entschieden
man auch diesen Mißbrauch abnormer Culturzustände vom Standpunkt des
Schönen und Sittlichen verwirft, für den Augenblick können wir diese Dialektik
mit empfinden, weil uns allen von der Krankheit des Zeitalters etwas im
Blut steckt. Von dem Gebiet der classischen Tragödie sind solche Versuche
durch ihre Natur ausgeschlossen, aber sie wirken auf das sogenannte gebildete
Publicum ihrer Zeit, und man wird vielleicht später einmal an ihnen die
' Pathologie unserer Periode studiren. Viel schlimmer ist für die augenblick¬
liche Wirkung, wenn wir uns, um den Gang einer Tragödie zu verstehn, in
unserer Bildung zurückschrauben, wenn wir uns V^orurtheile und unfertige
Bildungsformen vergegenwärtigen müssen, über die wir persönlich hinaus sind.
Mit Recht oder Unrecht empfinden wir dann in den Voraussetzungen des
Dichters das Walten des Zufalls, wir können nicht umhin, dem Helden im
Stillen unsere eigne Bildung unterzuschieben, und es verdrießt uns, daß
er sie nicht besitzt. Die tollsten Extravaganzen der Leidenschaft, die der mensch¬
lichen Natur überhaupt angehört, lassen wir uns gefallen z. B. im Othello;
aber wir verlangen von dem Helden, der uns interessiren soll, daß er in Be¬
ziehung auf die sittlichen Gedanken, die uns geläufig sind, nicht bornirt ist.
Diese Schwierigkeiten zu umgehn ist entweder eine ganz ungewöhnliche Be-
gabung nöthig, oder der Dichter muß selbst in seinen Ideen bornirt sein, wie
z, B. Jffland, dessen bürgerliche Dramen in diesem Sinn wieder einheitliche
Naturproducte sind.

Stellen wir drei Versuche aus der neusten Zeit zusammen, in denen die
Wertigkeit der Bildung als tragisches Motiv benutzt wird: Hebbels Maria
Magdalena, Auerbachs Lehnhold und Otto Ludwigs Eibförster, so wer¬
den wir in Bezug auf das Talent dem letzten unzweifelhaft den Preis mer-
kennen, aber als Ganzes betrachtet macht es den peinlichsten Eindruck. Es
liegt nicht in den einzelnen entsetzlichen Scenen, darin kommen ihm die andern
Dichter wenigstens gleich, sondern darin, daß uns der entscheidende Umstand
als ein Zufall erscheint. Es ist möglich, daß ein Förster in seiner Cultur so
weit zurück ist, daß er die Grenze seiner Befugnis! seinem Brodherrn gegenüber
nicht kennt, aber diese Unwissenheit geht uns nichts an, er sollte sie kennen,
wir haben das Recht, es von ihm zu verlangen, ebenso wie wir von ihm ver¬
langen, daß er seine sittlichen Maximen nicht aus einzelnen Bibelversen nimmt.
In das Mitleid, das wir fühlen, mischt sich Geringschätzung, und wenn wir
auch den Gutsbesitzer scharf "adeln, daß er die Unwissenheit seines Freundes
nicht mit mehr Nachsicht behandelt, so ist es doch schon eine schlimme Voraus¬
setzung, daß wir für unsere Helden Nachsicht in Anspruch nehmen müsse".
Selbst bei Hebbel, wo im Einzelnen der Zufall auch eine große Rolle spielt,


Raffinements erschien, wie z. B. das beliebte Motiv, das Schicksal aus der
Blasirtheit oder aus der Sentimentalität herzuleiten. Allein wie entschieden
man auch diesen Mißbrauch abnormer Culturzustände vom Standpunkt des
Schönen und Sittlichen verwirft, für den Augenblick können wir diese Dialektik
mit empfinden, weil uns allen von der Krankheit des Zeitalters etwas im
Blut steckt. Von dem Gebiet der classischen Tragödie sind solche Versuche
durch ihre Natur ausgeschlossen, aber sie wirken auf das sogenannte gebildete
Publicum ihrer Zeit, und man wird vielleicht später einmal an ihnen die
' Pathologie unserer Periode studiren. Viel schlimmer ist für die augenblick¬
liche Wirkung, wenn wir uns, um den Gang einer Tragödie zu verstehn, in
unserer Bildung zurückschrauben, wenn wir uns V^orurtheile und unfertige
Bildungsformen vergegenwärtigen müssen, über die wir persönlich hinaus sind.
Mit Recht oder Unrecht empfinden wir dann in den Voraussetzungen des
Dichters das Walten des Zufalls, wir können nicht umhin, dem Helden im
Stillen unsere eigne Bildung unterzuschieben, und es verdrießt uns, daß
er sie nicht besitzt. Die tollsten Extravaganzen der Leidenschaft, die der mensch¬
lichen Natur überhaupt angehört, lassen wir uns gefallen z. B. im Othello;
aber wir verlangen von dem Helden, der uns interessiren soll, daß er in Be¬
ziehung auf die sittlichen Gedanken, die uns geläufig sind, nicht bornirt ist.
Diese Schwierigkeiten zu umgehn ist entweder eine ganz ungewöhnliche Be-
gabung nöthig, oder der Dichter muß selbst in seinen Ideen bornirt sein, wie
z, B. Jffland, dessen bürgerliche Dramen in diesem Sinn wieder einheitliche
Naturproducte sind.

Stellen wir drei Versuche aus der neusten Zeit zusammen, in denen die
Wertigkeit der Bildung als tragisches Motiv benutzt wird: Hebbels Maria
Magdalena, Auerbachs Lehnhold und Otto Ludwigs Eibförster, so wer¬
den wir in Bezug auf das Talent dem letzten unzweifelhaft den Preis mer-
kennen, aber als Ganzes betrachtet macht es den peinlichsten Eindruck. Es
liegt nicht in den einzelnen entsetzlichen Scenen, darin kommen ihm die andern
Dichter wenigstens gleich, sondern darin, daß uns der entscheidende Umstand
als ein Zufall erscheint. Es ist möglich, daß ein Förster in seiner Cultur so
weit zurück ist, daß er die Grenze seiner Befugnis! seinem Brodherrn gegenüber
nicht kennt, aber diese Unwissenheit geht uns nichts an, er sollte sie kennen,
wir haben das Recht, es von ihm zu verlangen, ebenso wie wir von ihm ver¬
langen, daß er seine sittlichen Maximen nicht aus einzelnen Bibelversen nimmt.
In das Mitleid, das wir fühlen, mischt sich Geringschätzung, und wenn wir
auch den Gutsbesitzer scharf »adeln, daß er die Unwissenheit seines Freundes
nicht mit mehr Nachsicht behandelt, so ist es doch schon eine schlimme Voraus¬
setzung, daß wir für unsere Helden Nachsicht in Anspruch nehmen müsse».
Selbst bei Hebbel, wo im Einzelnen der Zufall auch eine große Rolle spielt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/414>, abgerufen am 23.07.2024.