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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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oft sehr verkehrt, oft sehr armselig, aber es sind wenigstens Motive, die un¬
mittelbar aus der menschlichen Seele hervorgehn, zu deren Verständniß man
nicht die ganze deutsche Literatur von Klopstock bis auf Heine studiren muß.

Freilich liegt auch hier bei der NeflexivnSbildung unserer Dichter der Ab¬
weg nahe, daß man die Natur und Convenienz des kleinen Lebens ebenso
zersetzt und subtilisirt als die des großen; auch die Reaction kann die Spuren,
ihrer Voraussetzung nicht verleugnen. Man prüft die Physiognomie der Na¬
turkinder mit dem geübten Blick eines Virtuosen, und findet in ihrer Natur,
waS doch erst der Blick der modernen Philosophie hineinsieht. In diesen Feh¬
ler seines KohlebraterS ist zuweilen auch Auerbach verfallen. Viel näher liegt
aber ein zweiter Mangel. Menschen, die in der Reflexion, in der Sprache
überhaupt noch wenig geübt sind, denen der Begriff des Allgemeinen noch
ziemlich fern liegt, gleichen in mancher Beziehung den Kindern: sie werden
sich über ihre eignen Motive nicht klar, und da es doch in der menschlichen
Natur liegt, für jede Wirkung eine Ursache zu suchen, so täuschen sie sich und
auch wol die andern. Die Neigung zur Lüge und zur Verstellung ist bei
Kindern und Naturmenschen viel häufiger, weil bei ihnen der Traum viel mehr
in das Wachen verschwimmt, als bei den Gebildeten. Für einen Dichter nun,
der nicht etwa selbst wie Jeremias Gotthelf der Volksschicht angehört,
die er schildert, liegt in diesem Unvermittelten der Uebergänge ein großer und
gefährlicher Reiz. Bald erscheint ihm nur das Unvermittelte als Natur, er
lauscht mit andachtsvoller Spannung den excentrischen Sprüngen eines kind¬
lichen Gemüths, und sieht in der Unreife, Unfertigkeit und Willkür die echte
ungetrübte Offcnbmung des Lebens. Sobald der Dichter sich der Motivirung
überhebt, wird ihm die Erfindung leicht: die Züge, die er aufstellt, sind "Zi^'c^u
rruzuM'a povtaö und der Leser mag sehn, wie er aus diesen zerstückelten Glie¬
dern ein Ganzes macht. Grade bei Dichtern, die mit einem seelenvollen Auge
die Geheimnisse der Natur beobachten, finden sich dann, weil sie den Ausnahme¬
fall "uf die Spitze treiben, Spuren einer ganz seltsamen Unwahrheit, die doch
mit ihrer Naturbeobachtung so innig verwachsen sind, daß man sie nicht von¬
einander, lösen kann.

Am bedenklichsten wird das Mißverhältniß, wenn man die Unfertigkeit
der Bildung als tragisches Motiv benutzt, namentlich auf dem Theater. Wir
lassen es uns gefallen, wenn das Schicksal nicht mehr nach der Weise der
Alten als äußere Macht, sondern als nothwendige Folge des innern Lebens
eintritt, wenn die Stärke, die Leidenschaft, selbst die Tugend deS Helden sich
gegen ihn wendet, weil sie eine einseitige Herrschaft behauptet, und so mit
den, andern sittlichen Bestimmungen des Lebens in Conflict geräth. Sehr
schlimm war es freilich, wenn in der jungdeutschen Poesie dieses innere Leben,
welches das Schicksal herausfordert, in der Form der Ueberbildung und deö


oft sehr verkehrt, oft sehr armselig, aber es sind wenigstens Motive, die un¬
mittelbar aus der menschlichen Seele hervorgehn, zu deren Verständniß man
nicht die ganze deutsche Literatur von Klopstock bis auf Heine studiren muß.

Freilich liegt auch hier bei der NeflexivnSbildung unserer Dichter der Ab¬
weg nahe, daß man die Natur und Convenienz des kleinen Lebens ebenso
zersetzt und subtilisirt als die des großen; auch die Reaction kann die Spuren,
ihrer Voraussetzung nicht verleugnen. Man prüft die Physiognomie der Na¬
turkinder mit dem geübten Blick eines Virtuosen, und findet in ihrer Natur,
waS doch erst der Blick der modernen Philosophie hineinsieht. In diesen Feh¬
ler seines KohlebraterS ist zuweilen auch Auerbach verfallen. Viel näher liegt
aber ein zweiter Mangel. Menschen, die in der Reflexion, in der Sprache
überhaupt noch wenig geübt sind, denen der Begriff des Allgemeinen noch
ziemlich fern liegt, gleichen in mancher Beziehung den Kindern: sie werden
sich über ihre eignen Motive nicht klar, und da es doch in der menschlichen
Natur liegt, für jede Wirkung eine Ursache zu suchen, so täuschen sie sich und
auch wol die andern. Die Neigung zur Lüge und zur Verstellung ist bei
Kindern und Naturmenschen viel häufiger, weil bei ihnen der Traum viel mehr
in das Wachen verschwimmt, als bei den Gebildeten. Für einen Dichter nun,
der nicht etwa selbst wie Jeremias Gotthelf der Volksschicht angehört,
die er schildert, liegt in diesem Unvermittelten der Uebergänge ein großer und
gefährlicher Reiz. Bald erscheint ihm nur das Unvermittelte als Natur, er
lauscht mit andachtsvoller Spannung den excentrischen Sprüngen eines kind¬
lichen Gemüths, und sieht in der Unreife, Unfertigkeit und Willkür die echte
ungetrübte Offcnbmung des Lebens. Sobald der Dichter sich der Motivirung
überhebt, wird ihm die Erfindung leicht: die Züge, die er aufstellt, sind «Zi^'c^u
rruzuM'a povtaö und der Leser mag sehn, wie er aus diesen zerstückelten Glie¬
dern ein Ganzes macht. Grade bei Dichtern, die mit einem seelenvollen Auge
die Geheimnisse der Natur beobachten, finden sich dann, weil sie den Ausnahme¬
fall «uf die Spitze treiben, Spuren einer ganz seltsamen Unwahrheit, die doch
mit ihrer Naturbeobachtung so innig verwachsen sind, daß man sie nicht von¬
einander, lösen kann.

Am bedenklichsten wird das Mißverhältniß, wenn man die Unfertigkeit
der Bildung als tragisches Motiv benutzt, namentlich auf dem Theater. Wir
lassen es uns gefallen, wenn das Schicksal nicht mehr nach der Weise der
Alten als äußere Macht, sondern als nothwendige Folge des innern Lebens
eintritt, wenn die Stärke, die Leidenschaft, selbst die Tugend deS Helden sich
gegen ihn wendet, weil sie eine einseitige Herrschaft behauptet, und so mit
den, andern sittlichen Bestimmungen des Lebens in Conflict geräth. Sehr
schlimm war es freilich, wenn in der jungdeutschen Poesie dieses innere Leben,
welches das Schicksal herausfordert, in der Form der Ueberbildung und deö


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[0413] oft sehr verkehrt, oft sehr armselig, aber es sind wenigstens Motive, die un¬ mittelbar aus der menschlichen Seele hervorgehn, zu deren Verständniß man nicht die ganze deutsche Literatur von Klopstock bis auf Heine studiren muß. Freilich liegt auch hier bei der NeflexivnSbildung unserer Dichter der Ab¬ weg nahe, daß man die Natur und Convenienz des kleinen Lebens ebenso zersetzt und subtilisirt als die des großen; auch die Reaction kann die Spuren, ihrer Voraussetzung nicht verleugnen. Man prüft die Physiognomie der Na¬ turkinder mit dem geübten Blick eines Virtuosen, und findet in ihrer Natur, waS doch erst der Blick der modernen Philosophie hineinsieht. In diesen Feh¬ ler seines KohlebraterS ist zuweilen auch Auerbach verfallen. Viel näher liegt aber ein zweiter Mangel. Menschen, die in der Reflexion, in der Sprache überhaupt noch wenig geübt sind, denen der Begriff des Allgemeinen noch ziemlich fern liegt, gleichen in mancher Beziehung den Kindern: sie werden sich über ihre eignen Motive nicht klar, und da es doch in der menschlichen Natur liegt, für jede Wirkung eine Ursache zu suchen, so täuschen sie sich und auch wol die andern. Die Neigung zur Lüge und zur Verstellung ist bei Kindern und Naturmenschen viel häufiger, weil bei ihnen der Traum viel mehr in das Wachen verschwimmt, als bei den Gebildeten. Für einen Dichter nun, der nicht etwa selbst wie Jeremias Gotthelf der Volksschicht angehört, die er schildert, liegt in diesem Unvermittelten der Uebergänge ein großer und gefährlicher Reiz. Bald erscheint ihm nur das Unvermittelte als Natur, er lauscht mit andachtsvoller Spannung den excentrischen Sprüngen eines kind¬ lichen Gemüths, und sieht in der Unreife, Unfertigkeit und Willkür die echte ungetrübte Offcnbmung des Lebens. Sobald der Dichter sich der Motivirung überhebt, wird ihm die Erfindung leicht: die Züge, die er aufstellt, sind «Zi^'c^u rruzuM'a povtaö und der Leser mag sehn, wie er aus diesen zerstückelten Glie¬ dern ein Ganzes macht. Grade bei Dichtern, die mit einem seelenvollen Auge die Geheimnisse der Natur beobachten, finden sich dann, weil sie den Ausnahme¬ fall «uf die Spitze treiben, Spuren einer ganz seltsamen Unwahrheit, die doch mit ihrer Naturbeobachtung so innig verwachsen sind, daß man sie nicht von¬ einander, lösen kann. Am bedenklichsten wird das Mißverhältniß, wenn man die Unfertigkeit der Bildung als tragisches Motiv benutzt, namentlich auf dem Theater. Wir lassen es uns gefallen, wenn das Schicksal nicht mehr nach der Weise der Alten als äußere Macht, sondern als nothwendige Folge des innern Lebens eintritt, wenn die Stärke, die Leidenschaft, selbst die Tugend deS Helden sich gegen ihn wendet, weil sie eine einseitige Herrschaft behauptet, und so mit den, andern sittlichen Bestimmungen des Lebens in Conflict geräth. Sehr schlimm war es freilich, wenn in der jungdeutschen Poesie dieses innere Leben, welches das Schicksal herausfordert, in der Form der Ueberbildung und deö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/413>, abgerufen am 23.07.2024.