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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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zehnte durch, für welche die Ritter vom Geist, als das gelesenste dieser
Bücher, die Charakteristik geben mögen, obgleich der Schaden viel älter ist, ob¬
gleich wir ihn z. B. in Tiecks, Hoffmanns und Schefers Novellen
fast in derselben Stärke antreffen, so ist der Eindruck folgender. An geistrei¬
chen Einfällen und Nelleitäten fehlt es diesen Figuren keineswegs; sie sind im
Gegentheil viel reichlicher damit versehn als die Nvmanhelden irgend einer
frühern Periode; sie begegnen auch zuweilen einem Hinderniß, dem Geldmangel,
der Polizei u. f. w. Aber diese Hindernisse sind nur äußerlich, in ihrer Seele
finden sie keinen substantiellen Inhalt, der zwingende Gewalt über sie aus¬
übte, und in dieser zwingenden Gewalt allein beruht der Begriff der Wirklich¬
keit. Dankmar Wildlingen ist auf jeder Seite genöthigt, ein neues Prin¬
zip seines Denkens, Empfindens und Handelns zu entdecken, er unterzieht sich
freilich dieser Ausgabe mit unglaublicher Virtuosität,, aber einerseits verleitet
sie ihn zu fortwährenden Widersprüchen, andrerseits beschäftigt sie ihn so, daß
er nicht zum wirklichen Handeln kommt. In den Hauptbüchern unserer No-
manhelden ist die Seite des Debet leer geblieben und deshalb sind alle Ver¬
hältnisse ihres Vermögens unsicher geworden.

Diese Zersetzung der überlieferten Sitte, diese Gewohnheit der Reflexion
in den höhern Kreisen, hängt mit einem zweiten, für den Dichter noch schlim¬
mern Fehler zusammen. Auf uns allen lastet der Schatz eines langjährigen
Bildungsprocesses, der unsere Eigenthümlichkeit verkümmert. Seit fünfzig
Jahren macht die deutsche Literatur dem Herkommen den Krieg; an der Lec-
türe dieser Schriften sind wir alle aufgewachsen, wir haben die Flüssigkeit der
Begriffe, die Dialektik der Gegensätze nicht blos von den Philosophen, sondern
noch viel mehr von den Dichtern überkommen, und in der Vielseitigkeit der
Gesichtspunkte, die uns allen geläufig sind, wird die Auswahl sehr schwierig.
Der Reichthum unserer Bildung ist unsere Armuth, weil ihm die leitenden
Prinzipien fehlen. Aus der Reaction gegen diesen scheinbaren Neichihum ist
bei wohlgesinnten Dichtern die Rückkehr zu den beschränkten Lebenskreisen zu
erklären, die doch an und für sich für sie keinen Reiz haben können. Es ist
daraus zugleich zu erklären, daß man auch in der Poesie das Genre in der.
Weise eines historischen Gemäldes, das historische Bild genreartig behandelt.
Wenn früher die Dichtung Bauern und Kleinstädter nur in der. Manier eines
Teniers verwerthete, so war das natürlich, denn die echte Aufgabe der Dicht¬
kunst ist, uns in Kreise einzuführen, die über uns stehn. Jetzt hat sich die
Sache umgekehrt. An tiefem Inhalt, an Bedeutung, an Reiz und Schönheit
sind die Figuren der modernen Dorfgeschichten den frühern Idealen gewiß
nicht zu vergleichen, aber ihnen steht eine feste Sitte entgegen, die ihre Kraft
herausfordert, daß sie sich nicht im Grenzenlosen verliert, und ihre Bestimmt¬
heit ist noch nicht durch eine verwirrende Lectüre aufgelöst; ihre Motive sind


zehnte durch, für welche die Ritter vom Geist, als das gelesenste dieser
Bücher, die Charakteristik geben mögen, obgleich der Schaden viel älter ist, ob¬
gleich wir ihn z. B. in Tiecks, Hoffmanns und Schefers Novellen
fast in derselben Stärke antreffen, so ist der Eindruck folgender. An geistrei¬
chen Einfällen und Nelleitäten fehlt es diesen Figuren keineswegs; sie sind im
Gegentheil viel reichlicher damit versehn als die Nvmanhelden irgend einer
frühern Periode; sie begegnen auch zuweilen einem Hinderniß, dem Geldmangel,
der Polizei u. f. w. Aber diese Hindernisse sind nur äußerlich, in ihrer Seele
finden sie keinen substantiellen Inhalt, der zwingende Gewalt über sie aus¬
übte, und in dieser zwingenden Gewalt allein beruht der Begriff der Wirklich¬
keit. Dankmar Wildlingen ist auf jeder Seite genöthigt, ein neues Prin¬
zip seines Denkens, Empfindens und Handelns zu entdecken, er unterzieht sich
freilich dieser Ausgabe mit unglaublicher Virtuosität,, aber einerseits verleitet
sie ihn zu fortwährenden Widersprüchen, andrerseits beschäftigt sie ihn so, daß
er nicht zum wirklichen Handeln kommt. In den Hauptbüchern unserer No-
manhelden ist die Seite des Debet leer geblieben und deshalb sind alle Ver¬
hältnisse ihres Vermögens unsicher geworden.

Diese Zersetzung der überlieferten Sitte, diese Gewohnheit der Reflexion
in den höhern Kreisen, hängt mit einem zweiten, für den Dichter noch schlim¬
mern Fehler zusammen. Auf uns allen lastet der Schatz eines langjährigen
Bildungsprocesses, der unsere Eigenthümlichkeit verkümmert. Seit fünfzig
Jahren macht die deutsche Literatur dem Herkommen den Krieg; an der Lec-
türe dieser Schriften sind wir alle aufgewachsen, wir haben die Flüssigkeit der
Begriffe, die Dialektik der Gegensätze nicht blos von den Philosophen, sondern
noch viel mehr von den Dichtern überkommen, und in der Vielseitigkeit der
Gesichtspunkte, die uns allen geläufig sind, wird die Auswahl sehr schwierig.
Der Reichthum unserer Bildung ist unsere Armuth, weil ihm die leitenden
Prinzipien fehlen. Aus der Reaction gegen diesen scheinbaren Neichihum ist
bei wohlgesinnten Dichtern die Rückkehr zu den beschränkten Lebenskreisen zu
erklären, die doch an und für sich für sie keinen Reiz haben können. Es ist
daraus zugleich zu erklären, daß man auch in der Poesie das Genre in der.
Weise eines historischen Gemäldes, das historische Bild genreartig behandelt.
Wenn früher die Dichtung Bauern und Kleinstädter nur in der. Manier eines
Teniers verwerthete, so war das natürlich, denn die echte Aufgabe der Dicht¬
kunst ist, uns in Kreise einzuführen, die über uns stehn. Jetzt hat sich die
Sache umgekehrt. An tiefem Inhalt, an Bedeutung, an Reiz und Schönheit
sind die Figuren der modernen Dorfgeschichten den frühern Idealen gewiß
nicht zu vergleichen, aber ihnen steht eine feste Sitte entgegen, die ihre Kraft
herausfordert, daß sie sich nicht im Grenzenlosen verliert, und ihre Bestimmt¬
heit ist noch nicht durch eine verwirrende Lectüre aufgelöst; ihre Motive sind


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/412>, abgerufen am 23.07.2024.