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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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nehmung hindurch zum Verstand zu gelangen. Den nächsten Wendepunkt
bezeichnet das Selbstbewußtsein. Durch mehre Stadien hindurch ent¬
wickelt sich dieses zur Vernunft. Noch einen Schritt weiter, und das, reiche
Leben des Geistes entfaltet sich vor uns nach dem ganzen Umfang seiner
Bewährung in den Interessen der Sittlichkeit und der Bildung, in Kunst und
Religion, bis sich ihm endlich das Heiligthum des absoluten Wissens
erschließt, als wo er ganz er selbst und-im reinen Element der Wahrheit sei.
Allein wenn wir näher zusehn, so tritt hinter diesem transcendental-psycholo¬
gischen Schema ein ganz anderes Moment hervor; die Phänomenologie wird
zum Palimpsest: über und zwischen dem ersten Text entdecken wir einen zwei¬
ten. Eine Strecke wol können wir uns in das Werk hineinlesen, ohne etwas
Andres als eine kritische Analyse der natürlich nothwendigen, immer und über¬
all wiederkehrenden Standpunkte des Bewußtseins zu finden. Wir haben
jedoch kaum die Schwelle des "Selbstbewußtseins" überschritten, so begegnen
wir auf einmal einer Charakteristik des im Despotismus der orientalischen Völ¬
ker sich maiufestirenden Bewußtseins und unmittelbar darnach einer Charakte¬
ristik des Stoicismus und des Skepticismus. Die Spuren geschichtlicher Schil¬
derei werden demnächst wieder unsicherer und verwischter. ES scheint, daß "das
unglückliche Bewußtsein", welches sich ans dem skeptischen entwickeln soll, eine
schlechthin allgemeine Bewnßtseinsform sei, allein je mehr wir unser Auge an
die dunkeln Umrisse des entworfenen Bildes -gewöhnen, desto unzweifelhafter
wird es uns: wir haben in Wahrheit eine Charakteristik der kirchlichen und
mönchischen Ethik des mittelalterlichen Christenthums vor uns. Und ebenso
>in weitern Verlauf der Phänomenologie. Jetzt steht vor uns der sittliche
Geist des attischen Bürgerthums, und aus dem Halbdunkel der abstracten
Charakteristik desselben treten, als Schatten zwar, aber als deutlich erkennbare
Schatten, die Gestalten der alttragischen Bühne, Kreon und Hämon, Anti-
gone und Jsmene hervor; wir haben, den Eindruck von diesen Stellen, wie
wenn jemand allerlei Fragmente von Statuen und Säulentrümmern mit neuem
Material durch einen leichten Ueberwurf von Farbe oder Politur zu einer
Wand verbunden hätte. Jetzt wieder ist es der Staats- und Nechtsgeist der
Römer, weiterhin die Zustände des spätern römischen Imperialismus, die uns
w ähnlicher Weise vorgeführt werden. Zwischendurch und in der Folge sehen
wir uns in die Lebens- und Bildungstcndenzen der modernen Welt versetzt.
Wir befinden uns augenscheinlich in dem monarchisch absolutistischen Frankreich;
die geistreiche Frivolität wird uns geschildert, die in den aristokratischen Krei¬
sen der damaligen französischen Gesellschaft ihren Sitz hatte und durch die literarische
Thätigkeit der Encyklopädisten Form und Ausbreitung gewann; die nebel¬
haften Züge verdichten sich; indem wir uns noch durch das An sich und Für
sich hindurchtappcn, stoßen wir auf einmal auf eine wohlbekannte Figur


Grenzboten IV. > 1867. 48

nehmung hindurch zum Verstand zu gelangen. Den nächsten Wendepunkt
bezeichnet das Selbstbewußtsein. Durch mehre Stadien hindurch ent¬
wickelt sich dieses zur Vernunft. Noch einen Schritt weiter, und das, reiche
Leben des Geistes entfaltet sich vor uns nach dem ganzen Umfang seiner
Bewährung in den Interessen der Sittlichkeit und der Bildung, in Kunst und
Religion, bis sich ihm endlich das Heiligthum des absoluten Wissens
erschließt, als wo er ganz er selbst und-im reinen Element der Wahrheit sei.
Allein wenn wir näher zusehn, so tritt hinter diesem transcendental-psycholo¬
gischen Schema ein ganz anderes Moment hervor; die Phänomenologie wird
zum Palimpsest: über und zwischen dem ersten Text entdecken wir einen zwei¬
ten. Eine Strecke wol können wir uns in das Werk hineinlesen, ohne etwas
Andres als eine kritische Analyse der natürlich nothwendigen, immer und über¬
all wiederkehrenden Standpunkte des Bewußtseins zu finden. Wir haben
jedoch kaum die Schwelle des „Selbstbewußtseins" überschritten, so begegnen
wir auf einmal einer Charakteristik des im Despotismus der orientalischen Völ¬
ker sich maiufestirenden Bewußtseins und unmittelbar darnach einer Charakte¬
ristik des Stoicismus und des Skepticismus. Die Spuren geschichtlicher Schil¬
derei werden demnächst wieder unsicherer und verwischter. ES scheint, daß „das
unglückliche Bewußtsein", welches sich ans dem skeptischen entwickeln soll, eine
schlechthin allgemeine Bewnßtseinsform sei, allein je mehr wir unser Auge an
die dunkeln Umrisse des entworfenen Bildes -gewöhnen, desto unzweifelhafter
wird es uns: wir haben in Wahrheit eine Charakteristik der kirchlichen und
mönchischen Ethik des mittelalterlichen Christenthums vor uns. Und ebenso
>in weitern Verlauf der Phänomenologie. Jetzt steht vor uns der sittliche
Geist des attischen Bürgerthums, und aus dem Halbdunkel der abstracten
Charakteristik desselben treten, als Schatten zwar, aber als deutlich erkennbare
Schatten, die Gestalten der alttragischen Bühne, Kreon und Hämon, Anti-
gone und Jsmene hervor; wir haben, den Eindruck von diesen Stellen, wie
wenn jemand allerlei Fragmente von Statuen und Säulentrümmern mit neuem
Material durch einen leichten Ueberwurf von Farbe oder Politur zu einer
Wand verbunden hätte. Jetzt wieder ist es der Staats- und Nechtsgeist der
Römer, weiterhin die Zustände des spätern römischen Imperialismus, die uns
w ähnlicher Weise vorgeführt werden. Zwischendurch und in der Folge sehen
wir uns in die Lebens- und Bildungstcndenzen der modernen Welt versetzt.
Wir befinden uns augenscheinlich in dem monarchisch absolutistischen Frankreich;
die geistreiche Frivolität wird uns geschildert, die in den aristokratischen Krei¬
sen der damaligen französischen Gesellschaft ihren Sitz hatte und durch die literarische
Thätigkeit der Encyklopädisten Form und Ausbreitung gewann; die nebel¬
haften Züge verdichten sich; indem wir uns noch durch das An sich und Für
sich hindurchtappcn, stoßen wir auf einmal auf eine wohlbekannte Figur


Grenzboten IV. > 1867. 48
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[0385] nehmung hindurch zum Verstand zu gelangen. Den nächsten Wendepunkt bezeichnet das Selbstbewußtsein. Durch mehre Stadien hindurch ent¬ wickelt sich dieses zur Vernunft. Noch einen Schritt weiter, und das, reiche Leben des Geistes entfaltet sich vor uns nach dem ganzen Umfang seiner Bewährung in den Interessen der Sittlichkeit und der Bildung, in Kunst und Religion, bis sich ihm endlich das Heiligthum des absoluten Wissens erschließt, als wo er ganz er selbst und-im reinen Element der Wahrheit sei. Allein wenn wir näher zusehn, so tritt hinter diesem transcendental-psycholo¬ gischen Schema ein ganz anderes Moment hervor; die Phänomenologie wird zum Palimpsest: über und zwischen dem ersten Text entdecken wir einen zwei¬ ten. Eine Strecke wol können wir uns in das Werk hineinlesen, ohne etwas Andres als eine kritische Analyse der natürlich nothwendigen, immer und über¬ all wiederkehrenden Standpunkte des Bewußtseins zu finden. Wir haben jedoch kaum die Schwelle des „Selbstbewußtseins" überschritten, so begegnen wir auf einmal einer Charakteristik des im Despotismus der orientalischen Völ¬ ker sich maiufestirenden Bewußtseins und unmittelbar darnach einer Charakte¬ ristik des Stoicismus und des Skepticismus. Die Spuren geschichtlicher Schil¬ derei werden demnächst wieder unsicherer und verwischter. ES scheint, daß „das unglückliche Bewußtsein", welches sich ans dem skeptischen entwickeln soll, eine schlechthin allgemeine Bewnßtseinsform sei, allein je mehr wir unser Auge an die dunkeln Umrisse des entworfenen Bildes -gewöhnen, desto unzweifelhafter wird es uns: wir haben in Wahrheit eine Charakteristik der kirchlichen und mönchischen Ethik des mittelalterlichen Christenthums vor uns. Und ebenso >in weitern Verlauf der Phänomenologie. Jetzt steht vor uns der sittliche Geist des attischen Bürgerthums, und aus dem Halbdunkel der abstracten Charakteristik desselben treten, als Schatten zwar, aber als deutlich erkennbare Schatten, die Gestalten der alttragischen Bühne, Kreon und Hämon, Anti- gone und Jsmene hervor; wir haben, den Eindruck von diesen Stellen, wie wenn jemand allerlei Fragmente von Statuen und Säulentrümmern mit neuem Material durch einen leichten Ueberwurf von Farbe oder Politur zu einer Wand verbunden hätte. Jetzt wieder ist es der Staats- und Nechtsgeist der Römer, weiterhin die Zustände des spätern römischen Imperialismus, die uns w ähnlicher Weise vorgeführt werden. Zwischendurch und in der Folge sehen wir uns in die Lebens- und Bildungstcndenzen der modernen Welt versetzt. Wir befinden uns augenscheinlich in dem monarchisch absolutistischen Frankreich; die geistreiche Frivolität wird uns geschildert, die in den aristokratischen Krei¬ sen der damaligen französischen Gesellschaft ihren Sitz hatte und durch die literarische Thätigkeit der Encyklopädisten Form und Ausbreitung gewann; die nebel¬ haften Züge verdichten sich; indem wir uns noch durch das An sich und Für sich hindurchtappcn, stoßen wir auf einmal auf eine wohlbekannte Figur Grenzboten IV. > 1867. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/385>, abgerufen am 23.07.2024.