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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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es ist jener liederlich geistreiche und vor Liederlichkeit und Esprit verrückt ge¬
wordene Musiker aus Didcrots Gespräch "Nameaus Neffe." Es folgt weiter
eine Schilderung der deutschen Aufklärung und ihres Kampfes mit der Ortho¬
doxie, mit dem,Glauben und mit dem Aberglauben. Und wieder ändert sich
die Scene. "Die absolute Freiheit und der Schrecken" lautet die Ueberschrift
eines Capitels, in welchem wir eine Begriffsskizze der französischen Revolution,
der Blutscenen des September, der Schreckensherrschaft der Se. Just und Robes-
pierre lesen. Unser Weg führt uns weiter in die Mitte der kantschen und fichteschen
Weltanschauung, in die Gedankenwelt der deutschen Literatur, in die Periode ver
Romantik und des Progonenthums der Romantik. Eine Geschichte und Cha¬
rakteristik der weltgeschichtlichen Religionen leitet uns endlich durch die Mysterien
des Christenthums zu. dem uns bereits bekannten Ziel, zu dem, was nach Hegel
zugleich der an sich höchste und zugleich der Bewußtseinsstandpunkt seiner
eignen Gegenwart sein soll,.zu dem Standpunkt des "absoluten Wissens". ^
Wie in der Divina Commedia durchwandern wir an der Hand des Dichters
die Regionen der abgeschiedenen Geister, sehen die Qualen der einen und er¬
freuen uns an der Tapferkeit, der Schönheit und dem Glück der andern, um
endlich im absoluten Wissen die Seligkeit des im Geist selbst gegründeten Him¬
mels zu genießen. Denn alle Jenseitigkeit der "göttlichen Komödie" ist hier
ein Diesseits. "Die begriffene Geschichte, heißt es am Schluß, bildet die Er¬
innerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahr¬
heit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre;
nur aus dem Kelch dieses Geisterreichs schäumt ihm seine Unendlichkeit."

Obgleich sie sich aber auf dem Boden der Wirklichkeit bewegt, ist in Wahr¬
heit die Phänomenologie'phantastischer als die göttliche Comödie. Sie ist eine
durch die Geschichte in Verwirrung und Unordnung gebrachte Psychologie und eine
durch die Psychologie in Zerrüttung gebrachte Geschichte. In langer Reihe
erscheinen vor dem Thron des Absoluten historische Figuren, zu psychologische"
Geistern verkleidet, und wiederum psychologische Potenzen unter der Maske
historischer Gestalten. Es sind im Grund nur Wandlungen des Absoluten
selbst d. h. fortwährende Incarnationen Gottes. Die Geschichte ist nicht mehr
ein Weiterstreben der Menschheit, nicht mehr die Arbeit zum Licht höherer
- Freiheit, sondern ein im Wechsel ewig gleiches Spiel der Freiheit mit ihrem eig¬
nen Wesen.- Im Besitz des denkbar höchsten Princips deS Erkennens sind d>e
Sterblichen an Einsicht gleich den Göttern: auch ihre sittliche Praxis ist eben¬
deshalb nur eine schöne Entfaltung ihres Daseins, ein Leben wie der Götter,
eine künstlerische Ausbreitung im Element der höchsten Befriedigung un
Versöhntheit.'

Wir sind an der Hand des Verfassers der Entwicklung des hegelsche
Systems bis zu dem Punkt gefolgt, wo es aus der trüben chaotischen GaY-


es ist jener liederlich geistreiche und vor Liederlichkeit und Esprit verrückt ge¬
wordene Musiker aus Didcrots Gespräch „Nameaus Neffe." Es folgt weiter
eine Schilderung der deutschen Aufklärung und ihres Kampfes mit der Ortho¬
doxie, mit dem,Glauben und mit dem Aberglauben. Und wieder ändert sich
die Scene. „Die absolute Freiheit und der Schrecken" lautet die Ueberschrift
eines Capitels, in welchem wir eine Begriffsskizze der französischen Revolution,
der Blutscenen des September, der Schreckensherrschaft der Se. Just und Robes-
pierre lesen. Unser Weg führt uns weiter in die Mitte der kantschen und fichteschen
Weltanschauung, in die Gedankenwelt der deutschen Literatur, in die Periode ver
Romantik und des Progonenthums der Romantik. Eine Geschichte und Cha¬
rakteristik der weltgeschichtlichen Religionen leitet uns endlich durch die Mysterien
des Christenthums zu. dem uns bereits bekannten Ziel, zu dem, was nach Hegel
zugleich der an sich höchste und zugleich der Bewußtseinsstandpunkt seiner
eignen Gegenwart sein soll,.zu dem Standpunkt des „absoluten Wissens". ^
Wie in der Divina Commedia durchwandern wir an der Hand des Dichters
die Regionen der abgeschiedenen Geister, sehen die Qualen der einen und er¬
freuen uns an der Tapferkeit, der Schönheit und dem Glück der andern, um
endlich im absoluten Wissen die Seligkeit des im Geist selbst gegründeten Him¬
mels zu genießen. Denn alle Jenseitigkeit der „göttlichen Komödie" ist hier
ein Diesseits. „Die begriffene Geschichte, heißt es am Schluß, bildet die Er¬
innerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahr¬
heit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre;
nur aus dem Kelch dieses Geisterreichs schäumt ihm seine Unendlichkeit."

Obgleich sie sich aber auf dem Boden der Wirklichkeit bewegt, ist in Wahr¬
heit die Phänomenologie'phantastischer als die göttliche Comödie. Sie ist eine
durch die Geschichte in Verwirrung und Unordnung gebrachte Psychologie und eine
durch die Psychologie in Zerrüttung gebrachte Geschichte. In langer Reihe
erscheinen vor dem Thron des Absoluten historische Figuren, zu psychologische"
Geistern verkleidet, und wiederum psychologische Potenzen unter der Maske
historischer Gestalten. Es sind im Grund nur Wandlungen des Absoluten
selbst d. h. fortwährende Incarnationen Gottes. Die Geschichte ist nicht mehr
ein Weiterstreben der Menschheit, nicht mehr die Arbeit zum Licht höherer
- Freiheit, sondern ein im Wechsel ewig gleiches Spiel der Freiheit mit ihrem eig¬
nen Wesen.- Im Besitz des denkbar höchsten Princips deS Erkennens sind d>e
Sterblichen an Einsicht gleich den Göttern: auch ihre sittliche Praxis ist eben¬
deshalb nur eine schöne Entfaltung ihres Daseins, ein Leben wie der Götter,
eine künstlerische Ausbreitung im Element der höchsten Befriedigung un
Versöhntheit.'

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Systems bis zu dem Punkt gefolgt, wo es aus der trüben chaotischen GaY-


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[0386] es ist jener liederlich geistreiche und vor Liederlichkeit und Esprit verrückt ge¬ wordene Musiker aus Didcrots Gespräch „Nameaus Neffe." Es folgt weiter eine Schilderung der deutschen Aufklärung und ihres Kampfes mit der Ortho¬ doxie, mit dem,Glauben und mit dem Aberglauben. Und wieder ändert sich die Scene. „Die absolute Freiheit und der Schrecken" lautet die Ueberschrift eines Capitels, in welchem wir eine Begriffsskizze der französischen Revolution, der Blutscenen des September, der Schreckensherrschaft der Se. Just und Robes- pierre lesen. Unser Weg führt uns weiter in die Mitte der kantschen und fichteschen Weltanschauung, in die Gedankenwelt der deutschen Literatur, in die Periode ver Romantik und des Progonenthums der Romantik. Eine Geschichte und Cha¬ rakteristik der weltgeschichtlichen Religionen leitet uns endlich durch die Mysterien des Christenthums zu. dem uns bereits bekannten Ziel, zu dem, was nach Hegel zugleich der an sich höchste und zugleich der Bewußtseinsstandpunkt seiner eignen Gegenwart sein soll,.zu dem Standpunkt des „absoluten Wissens". ^ Wie in der Divina Commedia durchwandern wir an der Hand des Dichters die Regionen der abgeschiedenen Geister, sehen die Qualen der einen und er¬ freuen uns an der Tapferkeit, der Schönheit und dem Glück der andern, um endlich im absoluten Wissen die Seligkeit des im Geist selbst gegründeten Him¬ mels zu genießen. Denn alle Jenseitigkeit der „göttlichen Komödie" ist hier ein Diesseits. „Die begriffene Geschichte, heißt es am Schluß, bildet die Er¬ innerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahr¬ heit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur aus dem Kelch dieses Geisterreichs schäumt ihm seine Unendlichkeit." Obgleich sie sich aber auf dem Boden der Wirklichkeit bewegt, ist in Wahr¬ heit die Phänomenologie'phantastischer als die göttliche Comödie. Sie ist eine durch die Geschichte in Verwirrung und Unordnung gebrachte Psychologie und eine durch die Psychologie in Zerrüttung gebrachte Geschichte. In langer Reihe erscheinen vor dem Thron des Absoluten historische Figuren, zu psychologische" Geistern verkleidet, und wiederum psychologische Potenzen unter der Maske historischer Gestalten. Es sind im Grund nur Wandlungen des Absoluten selbst d. h. fortwährende Incarnationen Gottes. Die Geschichte ist nicht mehr ein Weiterstreben der Menschheit, nicht mehr die Arbeit zum Licht höherer - Freiheit, sondern ein im Wechsel ewig gleiches Spiel der Freiheit mit ihrem eig¬ nen Wesen.- Im Besitz des denkbar höchsten Princips deS Erkennens sind d>e Sterblichen an Einsicht gleich den Göttern: auch ihre sittliche Praxis ist eben¬ deshalb nur eine schöne Entfaltung ihres Daseins, ein Leben wie der Götter, eine künstlerische Ausbreitung im Element der höchsten Befriedigung un Versöhntheit.' Wir sind an der Hand des Verfassers der Entwicklung des hegelsche Systems bis zu dem Punkt gefolgt, wo es aus der trüben chaotischen GaY-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/386>, abgerufen am 23.07.2024.