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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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stellender und descriptiver Weise entwickelten. Beider System beruhte in letzter
Instanz auf derselben gemeinschaftlichen Grundlage, war beherrscht von dem
einen bald bestimmt, bald unbestimmt ausgesprochenen Gedanken: die Ge¬
sammtheit alles Seins ist wie ein Kunstwerk, das All d. h. das Denken wie
das Handeln, die Natur wie die Geschichte, steht unter dem ästhetischen
Schema und trägt den Typus absoluter Harmonie. Schelling, formgewandt
und mit den Bedürfnissen des philosophirenden Publicums durch lange Uebung
vertraut, gab der neuen Lehre gewissermaßen die künstlerische Haltung.
Hegel eroberte für sie die historische Stelle, indem er sie zugleich durch die
Dialektik seines Systems weiter entwickelte. Die wichtigste Schrift dieser Periode
ist die Auseinandersetzung mit der Refleriousphilvsophie d. h. mit den
Systemen Kants, Fichtes und Jakobis. Haym zeigt vollkommen richtig, daß
diese Kritik mit dem verhängnißvollen Fehler behaftet war, den Beweis durch
die Behauptung zu ersetzen. Im Uebrigen wird er dieser merkwürdigen Ab¬
handlung nicht ganz gerecht. In der Form ist sie zwar verworren, wie das
Meiste, was Hegel geschrieben hat, aber die Charakteristik der germanisch
Protestantischen Anschauungsweise, die an jenen drei Systemen nachgewiesen
wird, ist wahrhaft genial, und die Stärke der Ausdrücke kann man dies Mal
mit dem Triumph der neugewonnenen Ideen entschuldigen. Wir finden auch
keine Neigung zum Katholicismus darin. Hegel weist nur nach:, daß die
historische Erscheinung des Protestantismus noch nicht die wahre Darstellung
des Glaubens ist; daß es zwar nothwendig war, aus der gedankenlosen
Harmonie der alten Kirche zum Ernst der Arbeit überzugehn und den
Schmerz deS Gedankens nicht zu scheuen, daß man aber in dem Gefühl der
Entzweiung nicht stehn bleiben darf; daß man eine "cuc Glaubensform suchen
Müsse, in welcher der Geist nach langer Selbstentfremdung sich wiederfinde.
Daß in dieser Versöhnung des Protestantismus mit dem ClasstcismuS nicht
blos innerhalb der Kunst, sondern anch in der Religion die höchste Aufgabe
Unserer Zeit beruht, wird niemand verkennen. Hegel hat das Problem frei¬
lich nicht gelöst, abcd wir finden es nirgend so scharf formulirt und so dich¬
terisch schön ausgedrückt, als in einzelnen Stellen dieser Abhandlung; wir
senden namentlich die Kritik des subjectiven Idealismus vollkommen gelungen,
^me ähnliche Aufgabe hatte sich die romantische Schule gestellt, mit wel¬
ker (namentlich mit Novalis) das neue System sich anfangs im Einklang
fühlte; bald aber mußte Hegel durch ernsteres Nachdenken belehrt werden, daß
"uf dem Wege der souverainen Einbildungskraft die Versöhnung zwischen den
christlichen und griechischen Idealen nicht herzustellen sei. Diese größte Re¬
action in Hegels Geist fand statt, als ihm durch Schellings Weggang aus
Jena möglich gemacht wurde, frei seiner eigenen Entwicklung nachzugehn.
Die Lossagung von der Romantik erfolgte in der Vorrede zur Phänomens-


stellender und descriptiver Weise entwickelten. Beider System beruhte in letzter
Instanz auf derselben gemeinschaftlichen Grundlage, war beherrscht von dem
einen bald bestimmt, bald unbestimmt ausgesprochenen Gedanken: die Ge¬
sammtheit alles Seins ist wie ein Kunstwerk, das All d. h. das Denken wie
das Handeln, die Natur wie die Geschichte, steht unter dem ästhetischen
Schema und trägt den Typus absoluter Harmonie. Schelling, formgewandt
und mit den Bedürfnissen des philosophirenden Publicums durch lange Uebung
vertraut, gab der neuen Lehre gewissermaßen die künstlerische Haltung.
Hegel eroberte für sie die historische Stelle, indem er sie zugleich durch die
Dialektik seines Systems weiter entwickelte. Die wichtigste Schrift dieser Periode
ist die Auseinandersetzung mit der Refleriousphilvsophie d. h. mit den
Systemen Kants, Fichtes und Jakobis. Haym zeigt vollkommen richtig, daß
diese Kritik mit dem verhängnißvollen Fehler behaftet war, den Beweis durch
die Behauptung zu ersetzen. Im Uebrigen wird er dieser merkwürdigen Ab¬
handlung nicht ganz gerecht. In der Form ist sie zwar verworren, wie das
Meiste, was Hegel geschrieben hat, aber die Charakteristik der germanisch
Protestantischen Anschauungsweise, die an jenen drei Systemen nachgewiesen
wird, ist wahrhaft genial, und die Stärke der Ausdrücke kann man dies Mal
mit dem Triumph der neugewonnenen Ideen entschuldigen. Wir finden auch
keine Neigung zum Katholicismus darin. Hegel weist nur nach:, daß die
historische Erscheinung des Protestantismus noch nicht die wahre Darstellung
des Glaubens ist; daß es zwar nothwendig war, aus der gedankenlosen
Harmonie der alten Kirche zum Ernst der Arbeit überzugehn und den
Schmerz deS Gedankens nicht zu scheuen, daß man aber in dem Gefühl der
Entzweiung nicht stehn bleiben darf; daß man eine »cuc Glaubensform suchen
Müsse, in welcher der Geist nach langer Selbstentfremdung sich wiederfinde.
Daß in dieser Versöhnung des Protestantismus mit dem ClasstcismuS nicht
blos innerhalb der Kunst, sondern anch in der Religion die höchste Aufgabe
Unserer Zeit beruht, wird niemand verkennen. Hegel hat das Problem frei¬
lich nicht gelöst, abcd wir finden es nirgend so scharf formulirt und so dich¬
terisch schön ausgedrückt, als in einzelnen Stellen dieser Abhandlung; wir
senden namentlich die Kritik des subjectiven Idealismus vollkommen gelungen,
^me ähnliche Aufgabe hatte sich die romantische Schule gestellt, mit wel¬
ker (namentlich mit Novalis) das neue System sich anfangs im Einklang
fühlte; bald aber mußte Hegel durch ernsteres Nachdenken belehrt werden, daß
"uf dem Wege der souverainen Einbildungskraft die Versöhnung zwischen den
christlichen und griechischen Idealen nicht herzustellen sei. Diese größte Re¬
action in Hegels Geist fand statt, als ihm durch Schellings Weggang aus
Jena möglich gemacht wurde, frei seiner eigenen Entwicklung nachzugehn.
Die Lossagung von der Romantik erfolgte in der Vorrede zur Phänomens-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/383>, abgerufen am 23.07.2024.