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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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gödie waltenden ^Conflicts der ethischen Mächte begriffen. -- Sehr schön cha-
rakterisirt Haym die beiden Elemente, die sich in Hegels Denken bekämpften,
S. 62: "Verdrängt von der Fülle des Inhalts war seine nüchterne Verstän¬
digkeit an den Saum seines Geistes entwichen; sie hatte sich zur harten Schale
verdichtet, die den Kern jenes Ideals von außen umschloß. In der Form
deS verständigen Begreifens bewegte sich dieser Kern für jetzt noch lose- und
frei. Aber seine Bestimmung war, durch seine eigne Substanz die umgebende
Hülle zu nähren. Tiefer und tiefer wuchs die Schale in den Kern hinein,
ihn immer mehr verhärtend und verholzend."

Die zweite Hauslehrerstelle, in Frankfurt, -1797--1800, regt ihn zuerst
zu politischen Detailstudien an. Seine Abhandlung über die innern Ver¬
hältnisse Würtembergs scheint" auf durchgreifende Reformen auszugehn: er er¬
öffnet sie mit einer rednerischen Aufforderung, sich von der "Angst, die muß,"
zu dem "Muth" zu erheben "der will." Allein unversehens zerrinnen ihm die
Begriffe von allgemeinen Menschenrechten, von Fortschritt und Vernunftrecht,
die Anschauung von dem was sein soll, in die Anschauung von dem, was ist;
seine Forderungen werden stumpf an der Wahrnehmung der thatsächlichen Zustände
als der nothwendigen Bedingungen aller Reformen, und sein Nefvrmeiser wie sein
rednerisches Pathos schlägt in die Resignation des Nichtwissens und in theoretische
Rathlosigkeit um. Einen ähnlichen Charakter haben seine damaligen Ausführungen
über das deutsche Rechtssystem -- doch bemerken wir beiläufig, daß uns der
Grundgedanke der Schrift, der Weg zur Einheit durch den Despotismus,
namentlich für jene Zeit, haltbarer erscheint, als Haym zugeben will. Wem
verdanken wir denn, waS wir als Nation sind? Friedrich und Napoleon! Der
letztere hat es freilich nicht gewollt, aber er hat doch durch das freilich sehr un¬
vollständige Aufräumen deS Schuttes eine Art von Fortschritt möglich gemacht
und durch den gemeinsamen Druck der Nation eine Ahnung von ihrer Existenz
gegeben. Sehr richtig- ist dagegen und bezeichnend für Hegel im Allgemeinen,
was Haym S. 76 bemerkt: "Wie sich Goethe mit seinen individuellen Er¬
lebnissen abfand, indem er sie, den Sturm des bewegten Busens durch den
Zauber der Dichtung beschwichtigend, zu Bildern und Gestalten abrundete, so
findet sich Hegel mit dem allgemeinen Weltzustaud, mit dem Zustand des
Vaterlandes ab,' indem er ihn, seine Nothwendigkeit historisch begreifend, in
eine gedankenmäßige Charakteristik faßt."

In diese frankfurter Periode fällt der erste Entwurf des ganzen Systems,
das von einem ganz andern Princip ausgeht, als bei Kant. Diesem kam es
darauf an, einen festen Punkt der Wahrheit ausfindig zu machen, an welchen
mit untrüglicher Sicherheit das Wissen angeknüpft werden könne. Was
Hegel zum Philosophien treibt, ist nicht in erster Linie das Bedürfniß wisse"-
lchafllicher Gewissenhaftigkeit, sondern das Bedürfniß, sich daS Ganze der


gödie waltenden ^Conflicts der ethischen Mächte begriffen. — Sehr schön cha-
rakterisirt Haym die beiden Elemente, die sich in Hegels Denken bekämpften,
S. 62: „Verdrängt von der Fülle des Inhalts war seine nüchterne Verstän¬
digkeit an den Saum seines Geistes entwichen; sie hatte sich zur harten Schale
verdichtet, die den Kern jenes Ideals von außen umschloß. In der Form
deS verständigen Begreifens bewegte sich dieser Kern für jetzt noch lose- und
frei. Aber seine Bestimmung war, durch seine eigne Substanz die umgebende
Hülle zu nähren. Tiefer und tiefer wuchs die Schale in den Kern hinein,
ihn immer mehr verhärtend und verholzend."

Die zweite Hauslehrerstelle, in Frankfurt, -1797—1800, regt ihn zuerst
zu politischen Detailstudien an. Seine Abhandlung über die innern Ver¬
hältnisse Würtembergs scheint» auf durchgreifende Reformen auszugehn: er er¬
öffnet sie mit einer rednerischen Aufforderung, sich von der „Angst, die muß,"
zu dem „Muth" zu erheben „der will." Allein unversehens zerrinnen ihm die
Begriffe von allgemeinen Menschenrechten, von Fortschritt und Vernunftrecht,
die Anschauung von dem was sein soll, in die Anschauung von dem, was ist;
seine Forderungen werden stumpf an der Wahrnehmung der thatsächlichen Zustände
als der nothwendigen Bedingungen aller Reformen, und sein Nefvrmeiser wie sein
rednerisches Pathos schlägt in die Resignation des Nichtwissens und in theoretische
Rathlosigkeit um. Einen ähnlichen Charakter haben seine damaligen Ausführungen
über das deutsche Rechtssystem — doch bemerken wir beiläufig, daß uns der
Grundgedanke der Schrift, der Weg zur Einheit durch den Despotismus,
namentlich für jene Zeit, haltbarer erscheint, als Haym zugeben will. Wem
verdanken wir denn, waS wir als Nation sind? Friedrich und Napoleon! Der
letztere hat es freilich nicht gewollt, aber er hat doch durch das freilich sehr un¬
vollständige Aufräumen deS Schuttes eine Art von Fortschritt möglich gemacht
und durch den gemeinsamen Druck der Nation eine Ahnung von ihrer Existenz
gegeben. Sehr richtig- ist dagegen und bezeichnend für Hegel im Allgemeinen,
was Haym S. 76 bemerkt: „Wie sich Goethe mit seinen individuellen Er¬
lebnissen abfand, indem er sie, den Sturm des bewegten Busens durch den
Zauber der Dichtung beschwichtigend, zu Bildern und Gestalten abrundete, so
findet sich Hegel mit dem allgemeinen Weltzustaud, mit dem Zustand des
Vaterlandes ab,' indem er ihn, seine Nothwendigkeit historisch begreifend, in
eine gedankenmäßige Charakteristik faßt."

In diese frankfurter Periode fällt der erste Entwurf des ganzen Systems,
das von einem ganz andern Princip ausgeht, als bei Kant. Diesem kam es
darauf an, einen festen Punkt der Wahrheit ausfindig zu machen, an welchen
mit untrüglicher Sicherheit das Wissen angeknüpft werden könne. Was
Hegel zum Philosophien treibt, ist nicht in erster Linie das Bedürfniß wisse»-
lchafllicher Gewissenhaftigkeit, sondern das Bedürfniß, sich daS Ganze der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/380>, abgerufen am 23.07.2024.