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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Verstand sind angewendet worden, wer statt durch die Wunder, den Eingang
des Christenthums erklärbar zu finden, eher sich die Frage schon aufgeworfen
hat: wie muß das Zeitalter beschaffen gewesen sein, daß Wunder und zwar
solche Wunder, als die Geschichte uns erzählt, in demselben möglich werden?
-- wer diese Bemerkungen schon gemacht hat, wird die eben ausgeworfene
Frage durch jene Ausführungen noch nicht beantwortet finden." -- Hegel sucht
sich nun in den Geist der vorchristlichen Zeiten historisch-psychologisch hinein
zu sinnen. Die griechische Religion war eine Religion freier Völker, mit dem
Verlust der Freiheit mußte auch der Sinn und die Kraft derselben, mithin
ihre Angemessenheit für die Menschen verloren gehen. Im römischen Kaiser¬
reich ging alle Thätigkeit aufs Einzelne. -- Vergebens suchten die Menschen
nach einer allgemeinen Idee, für die sie leben und sterben mochten; die alten
Götter, gleichfalls einzelne und beschränkte Wesen, konnten diesem Bedürfniß
eines ideellen Ersatzes für das verlorene Vaterland kein Genüge leisten. Da,
in diesem verzweifelten Zustande bot sich den Menschen eine Religion dar, die
unter einem Volke von ähnlicher Verdorbenheit und ähnlicher, nur anders
gefärbter Leerheit entstanden war. Die Gottheit, welche das Christenthum
der menschlichen Vernunft anbot, wurde zum Surrogat sür jenes Absolute,
das mit der republikanischen Freiheit untergegangen war. Was' außerhalb
der"menschlichen Macht und des menschlichen Wollens lag, rückte in die Sphä¬
ren des Bittens und Flehens. Wenn die Realisirung des moralisch Ab¬
soluten nicht mehr gewollt, so konnte sie nun wenigstens gewünscht werden.
Da schlug die alte Phantasiereligion in eine positive um, da verwandelte sich
die subjective Religiosität in den Glauben an etre objective Gottheit, das
Wollen des Guten und seine Freiheit in die Anerkennung einer außermensch-
licheu Macht und die mit dieser Anerkennung verbundene Abhängigkeit und
Schwäche. Die Objectivität der Gottheit -- so ketzerisch läßt sich der junge
Theolog vernehmen, -- ist mit der Verdorbenheit und Sklaverei der Menschen
im gleichem Schritte gegangen, und jene ist eigentlich nur eine Offenbarung
dieses Geistes der Zeiten. Ausführlich schildert er, wie uun auf einmal die
Menschen erstaunlich viel von Gott zu wissen anfingen,, wie das ganze Sy¬
stem der Sittlichkeit von seinem natürlichem Ort im Herzen und im Sinn der
Menschen verrückt, zu einer Summe göttlicher Gebote gemacht worden, und
wie die Unterwerfung unter diese Gebote das Asyl der überhandnehmenden
Feigheit und Selbstsucht geworden sei. -- Um das Christenthum zu würdigen,
muß er das classische Schema anwenden, unter den Gesichtspunkt des grie¬
chischen Schicksals rückt er auch den Gegensatz des Lebens Jesu zu der Ge-
'schichte seines Volkes: der Oedipus auf Kolonos wird zu dem am Kreuz zur
Versöhnung des Schicksals sterbenden Christus umgedichtet, und das Evan¬
gelium von der Liebe als' die wahre Auflösung des in der griechischen Tra-


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Verstand sind angewendet worden, wer statt durch die Wunder, den Eingang
des Christenthums erklärbar zu finden, eher sich die Frage schon aufgeworfen
hat: wie muß das Zeitalter beschaffen gewesen sein, daß Wunder und zwar
solche Wunder, als die Geschichte uns erzählt, in demselben möglich werden?
— wer diese Bemerkungen schon gemacht hat, wird die eben ausgeworfene
Frage durch jene Ausführungen noch nicht beantwortet finden." — Hegel sucht
sich nun in den Geist der vorchristlichen Zeiten historisch-psychologisch hinein
zu sinnen. Die griechische Religion war eine Religion freier Völker, mit dem
Verlust der Freiheit mußte auch der Sinn und die Kraft derselben, mithin
ihre Angemessenheit für die Menschen verloren gehen. Im römischen Kaiser¬
reich ging alle Thätigkeit aufs Einzelne. — Vergebens suchten die Menschen
nach einer allgemeinen Idee, für die sie leben und sterben mochten; die alten
Götter, gleichfalls einzelne und beschränkte Wesen, konnten diesem Bedürfniß
eines ideellen Ersatzes für das verlorene Vaterland kein Genüge leisten. Da,
in diesem verzweifelten Zustande bot sich den Menschen eine Religion dar, die
unter einem Volke von ähnlicher Verdorbenheit und ähnlicher, nur anders
gefärbter Leerheit entstanden war. Die Gottheit, welche das Christenthum
der menschlichen Vernunft anbot, wurde zum Surrogat sür jenes Absolute,
das mit der republikanischen Freiheit untergegangen war. Was' außerhalb
der"menschlichen Macht und des menschlichen Wollens lag, rückte in die Sphä¬
ren des Bittens und Flehens. Wenn die Realisirung des moralisch Ab¬
soluten nicht mehr gewollt, so konnte sie nun wenigstens gewünscht werden.
Da schlug die alte Phantasiereligion in eine positive um, da verwandelte sich
die subjective Religiosität in den Glauben an etre objective Gottheit, das
Wollen des Guten und seine Freiheit in die Anerkennung einer außermensch-
licheu Macht und die mit dieser Anerkennung verbundene Abhängigkeit und
Schwäche. Die Objectivität der Gottheit — so ketzerisch läßt sich der junge
Theolog vernehmen, — ist mit der Verdorbenheit und Sklaverei der Menschen
im gleichem Schritte gegangen, und jene ist eigentlich nur eine Offenbarung
dieses Geistes der Zeiten. Ausführlich schildert er, wie uun auf einmal die
Menschen erstaunlich viel von Gott zu wissen anfingen,, wie das ganze Sy¬
stem der Sittlichkeit von seinem natürlichem Ort im Herzen und im Sinn der
Menschen verrückt, zu einer Summe göttlicher Gebote gemacht worden, und
wie die Unterwerfung unter diese Gebote das Asyl der überhandnehmenden
Feigheit und Selbstsucht geworden sei. — Um das Christenthum zu würdigen,
muß er das classische Schema anwenden, unter den Gesichtspunkt des grie¬
chischen Schicksals rückt er auch den Gegensatz des Lebens Jesu zu der Ge-
'schichte seines Volkes: der Oedipus auf Kolonos wird zu dem am Kreuz zur
Versöhnung des Schicksals sterbenden Christus umgedichtet, und das Evan¬
gelium von der Liebe als' die wahre Auflösung des in der griechischen Tra-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/379>, abgerufen am 23.07.2024.