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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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humanen Bildung auszugleichen. Aus diesem Streben geht eine auf sein in¬
dividuelles Bedürfniß berechnete Encyklopädie der Theologie hervor. Die
Ideen Lessings und Kants liegen zu Grunde, er bemüht sich die Theologie
nach kantschen Principien zu reinigen, und das Urtheil Rathaus über alle
positive Religion ist das seinige. Aber das philosophische Problem verwandelt
sich ihm sofort in ein historisches.. Wie kommt eS, so fragt er sich, daß die
Menschen für die Wahrheit, die ihnen durch die praktische Vernunft offenbart
wird, eine äußerliche Quelle und äußerliche Beglaubigung suchen. Mas ist
der Grund, daß dasjenige, was ursprünglich etwas lediglich subjectives ist,
sich für das Bewußtsein in ein Objectives verwandelt? Woher die Verunrei¬
nigung der Religion des Rechtthuns durch eine Reihe zum Theil widersin¬
niger Lehren und Geschichten, Satzungen und Ceremonien? -- Sein Inter¬
esse richtet sich nicht auf die Thatsachen als solche, sondern auf den innern
Sinn der Geschichte. Alle Wunder läßt er einfach bei Seite; ebenso die
Nebensachen in den einzelnen Erzählungen. Nur das Wesentliche d. h. das
Reinmenschliche zieht ihn an, auf diesem aber haftet sein Blick unzcrstreut.
Sinnend verweilt er über den einzelnen Auftritten der Lebensgeschichte, über
den einzelnen Worten der Lehre Christi. Er will sich nichts von dem Gehalt
derselben entschlüpfen lassen; er ruht nicht, bis er sich ihre" Sinn ganz zu
eigen gemacht, bis er ihn nachempfunden, und seine Empfindung wieder in
klare Begriffe übersetzt hat. Sein Denken ist nicht sowol von kritisch auf¬
lösendem, als von darstellendein und nachbildenden Charakter. Er trägt nicht
einfach die Dogmen vor, er kritisirt sie auch nicht, sondern er hat sie bereits
innerlich umgeschmolzen, hat sie begrifflich formirt und so allein ist er im
Stande sie zu reproduciren. Ueber Massen von Anschauungen schwebt ein
Gewölk von Begriffen, beides^berührt sich, aber eS fließt nicht in Eins. Zu"'
Mittelpunkt der christlichen Lehre, zum Mittelpunkt der Versöhnung macht er
die Liebe und Lebensfülle im Gegensatz zu der Abstraction des jüdischen
Gesetzes. Danach construirt er auch die Erscheinung des Heilands, freilich
so, daß in die begriffliche Construction die Einzelheiten der Ueberlieferung auf¬
genommen werden. Sein Vorbild bleibt auch hier die griechische Schönheit
und da ihm noch immer die Erscheinung des griechischen Olymp ästhetisch ver¬
ständlicher ist, als selbst das hellenisirte Christenthum, so muß er sich ^
Frage vorlegen: wie war es möglich, daß das Heidenthum dem Christenthum
wich? "Wer nun die einfältige Bemerkung gemacht hat, daß jene Heiden'doch
auch Verstand hatten, daß sie außerdem in allem, was groß, schön, edel, und
frei ist, noch so sehr unsere Muster sind, wer eS weiß, daß die Religion nicht
durch kalte Schlüsse, die man sich in der Studirstube vorrechnet, aus dein
Herzen und Leben eines Volks gerissen wird, wer es serner weiß, daß bei der
Verbreitung der christlichen Religion eher alles Andere, als Vernunft und


humanen Bildung auszugleichen. Aus diesem Streben geht eine auf sein in¬
dividuelles Bedürfniß berechnete Encyklopädie der Theologie hervor. Die
Ideen Lessings und Kants liegen zu Grunde, er bemüht sich die Theologie
nach kantschen Principien zu reinigen, und das Urtheil Rathaus über alle
positive Religion ist das seinige. Aber das philosophische Problem verwandelt
sich ihm sofort in ein historisches.. Wie kommt eS, so fragt er sich, daß die
Menschen für die Wahrheit, die ihnen durch die praktische Vernunft offenbart
wird, eine äußerliche Quelle und äußerliche Beglaubigung suchen. Mas ist
der Grund, daß dasjenige, was ursprünglich etwas lediglich subjectives ist,
sich für das Bewußtsein in ein Objectives verwandelt? Woher die Verunrei¬
nigung der Religion des Rechtthuns durch eine Reihe zum Theil widersin¬
niger Lehren und Geschichten, Satzungen und Ceremonien? — Sein Inter¬
esse richtet sich nicht auf die Thatsachen als solche, sondern auf den innern
Sinn der Geschichte. Alle Wunder läßt er einfach bei Seite; ebenso die
Nebensachen in den einzelnen Erzählungen. Nur das Wesentliche d. h. das
Reinmenschliche zieht ihn an, auf diesem aber haftet sein Blick unzcrstreut.
Sinnend verweilt er über den einzelnen Auftritten der Lebensgeschichte, über
den einzelnen Worten der Lehre Christi. Er will sich nichts von dem Gehalt
derselben entschlüpfen lassen; er ruht nicht, bis er sich ihre» Sinn ganz zu
eigen gemacht, bis er ihn nachempfunden, und seine Empfindung wieder in
klare Begriffe übersetzt hat. Sein Denken ist nicht sowol von kritisch auf¬
lösendem, als von darstellendein und nachbildenden Charakter. Er trägt nicht
einfach die Dogmen vor, er kritisirt sie auch nicht, sondern er hat sie bereits
innerlich umgeschmolzen, hat sie begrifflich formirt und so allein ist er im
Stande sie zu reproduciren. Ueber Massen von Anschauungen schwebt ein
Gewölk von Begriffen, beides^berührt sich, aber eS fließt nicht in Eins. Zu»'
Mittelpunkt der christlichen Lehre, zum Mittelpunkt der Versöhnung macht er
die Liebe und Lebensfülle im Gegensatz zu der Abstraction des jüdischen
Gesetzes. Danach construirt er auch die Erscheinung des Heilands, freilich
so, daß in die begriffliche Construction die Einzelheiten der Ueberlieferung auf¬
genommen werden. Sein Vorbild bleibt auch hier die griechische Schönheit
und da ihm noch immer die Erscheinung des griechischen Olymp ästhetisch ver¬
ständlicher ist, als selbst das hellenisirte Christenthum, so muß er sich ^
Frage vorlegen: wie war es möglich, daß das Heidenthum dem Christenthum
wich? „Wer nun die einfältige Bemerkung gemacht hat, daß jene Heiden'doch
auch Verstand hatten, daß sie außerdem in allem, was groß, schön, edel, und
frei ist, noch so sehr unsere Muster sind, wer eS weiß, daß die Religion nicht
durch kalte Schlüsse, die man sich in der Studirstube vorrechnet, aus dein
Herzen und Leben eines Volks gerissen wird, wer es serner weiß, daß bei der
Verbreitung der christlichen Religion eher alles Andere, als Vernunft und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/378>, abgerufen am 23.07.2024.