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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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der auch heute wieder sehr zeitgemäß ist) waren 182-1 noch nicht in die staat¬
liche Existenz aufgenommen; die Wirklichkeit trat auch hier in der Form des
Postulats, nicht einer fertigen Erscheinung aus. So oft aber Hegel in der
Anwendung seines Princips geirrt haben mag, es ist eine schreiende Unge¬
rechtigkeit, ihm auch nur für einen Augenblick die wahnwitzige Idee einer
absoluten Uebereinstimmung zwischen der augenblicklichen Erscheinung und der
absoluten Vernunft in den Kopf zu legen, da nach dem auf allen Seiten
wiederkehrenden Grundsatz seines Systems die Wahrheit dialektisch d. h. flüs¬
sig ist. Im Gegentheil muß man sagen, daß Hegels Rechtsphilosophie unter
allen Schriften der Periode von 1821, Görres, Adam Müller, u. s. p., um
den unbestimmten Ausdruck freisinnig zu vermeiden, die gebildetste und ent¬
wicklungsfähigste war.

Aber jetzt genug des Tadels; daß wir ihn so scharf formulirt haben,
gründet sich grade auf die Bedeutung des Buchs. Es ist ein höchst wichtiger
Schritt in unserer Selbsterkenntniß, eine Arbeit, deren Früchte nicht wieder
verloren gehen dürfen. In der Hauptsache ist der Thatbestand richtig festge¬
stellt, das Bedenkliche liegt nur in den Mißverständnissen, zu denen Haym
durch seine Form verleitet hat. Indem wir vor diesen Mißverständnissen war¬
nen, glauben wir dem Buch, von dessen wesentlichem Inhalt wir wünschen,
daß er die Ueberzeugung aller Gebildeten werde, einen Dienst zu leisten. Wir
gehen nun an der Hand des Verfassers auf das Einz tre ein.

Hegels Knabenzeit charakterisirt eine unersättliche Lernbegierde; er ercer-
Pirt ganz sachgemäß, ohne irgendwie einem eigenen Einfall'Raum, zu geben,
eine Masse von Schriften, seine Studien dehnen sich ans alle Gebiete aus,
jedoch das Alterthum,' das er gründlich kennen lernt, liegt allen seinen An¬
schauungen zu Grunde und seine noch unreife" Ueberzeugungen stehen durch¬
weg auf dem Boden der damaligen Aufklärung.

So vorbereitet studirt er 1788--93, 18 Jahre alt, Theologie. Die da¬
malige Theologie war ganz mit.philosophischen Elementen gesättigt; sie suchte
durch Reflexion die Dogmen vor dem Verstände zu rechtfertigen, selbst wenn
sie dieselben als über den Verstand hinausgehend nachweisen wollte. An
diesem Bestreben betheiligt sich Hegel sehr eifrig. Er ergänzt, um in die ne-
tt'gion einzudringen, die bisherige einseitige Aufklärung durch Kar"t und Ja-
kobi, durch Herder und Lessing. Gleichzeitig wird er durch seine Freundschaft
u>it Hölderlin zur lebendigen Empfindung und gleichsam in die Mysterien
des Hellenenthums eingeweiht. 'In ihm findet er das sichere Maß, die Ein¬
seitigkeit des Gefühls wie des Verstandes abzuweisen, in ihm das schöne
Gleichgewicht zwischen dürrer Abstraction und ercrntrischer Phantastik.

In seiner Hauslehrerstelle in Bern 1793--97 sucht er immer nach dem
Vorbilde des classischen Alterthums den rohen theologischen Stoff mit seiner


Greiizboteii lV. 4867.

der auch heute wieder sehr zeitgemäß ist) waren 182-1 noch nicht in die staat¬
liche Existenz aufgenommen; die Wirklichkeit trat auch hier in der Form des
Postulats, nicht einer fertigen Erscheinung aus. So oft aber Hegel in der
Anwendung seines Princips geirrt haben mag, es ist eine schreiende Unge¬
rechtigkeit, ihm auch nur für einen Augenblick die wahnwitzige Idee einer
absoluten Uebereinstimmung zwischen der augenblicklichen Erscheinung und der
absoluten Vernunft in den Kopf zu legen, da nach dem auf allen Seiten
wiederkehrenden Grundsatz seines Systems die Wahrheit dialektisch d. h. flüs¬
sig ist. Im Gegentheil muß man sagen, daß Hegels Rechtsphilosophie unter
allen Schriften der Periode von 1821, Görres, Adam Müller, u. s. p., um
den unbestimmten Ausdruck freisinnig zu vermeiden, die gebildetste und ent¬
wicklungsfähigste war.

Aber jetzt genug des Tadels; daß wir ihn so scharf formulirt haben,
gründet sich grade auf die Bedeutung des Buchs. Es ist ein höchst wichtiger
Schritt in unserer Selbsterkenntniß, eine Arbeit, deren Früchte nicht wieder
verloren gehen dürfen. In der Hauptsache ist der Thatbestand richtig festge¬
stellt, das Bedenkliche liegt nur in den Mißverständnissen, zu denen Haym
durch seine Form verleitet hat. Indem wir vor diesen Mißverständnissen war¬
nen, glauben wir dem Buch, von dessen wesentlichem Inhalt wir wünschen,
daß er die Ueberzeugung aller Gebildeten werde, einen Dienst zu leisten. Wir
gehen nun an der Hand des Verfassers auf das Einz tre ein.

Hegels Knabenzeit charakterisirt eine unersättliche Lernbegierde; er ercer-
Pirt ganz sachgemäß, ohne irgendwie einem eigenen Einfall'Raum, zu geben,
eine Masse von Schriften, seine Studien dehnen sich ans alle Gebiete aus,
jedoch das Alterthum,' das er gründlich kennen lernt, liegt allen seinen An¬
schauungen zu Grunde und seine noch unreife» Ueberzeugungen stehen durch¬
weg auf dem Boden der damaligen Aufklärung.

So vorbereitet studirt er 1788—93, 18 Jahre alt, Theologie. Die da¬
malige Theologie war ganz mit.philosophischen Elementen gesättigt; sie suchte
durch Reflexion die Dogmen vor dem Verstände zu rechtfertigen, selbst wenn
sie dieselben als über den Verstand hinausgehend nachweisen wollte. An
diesem Bestreben betheiligt sich Hegel sehr eifrig. Er ergänzt, um in die ne-
tt'gion einzudringen, die bisherige einseitige Aufklärung durch Kar»t und Ja-
kobi, durch Herder und Lessing. Gleichzeitig wird er durch seine Freundschaft
u>it Hölderlin zur lebendigen Empfindung und gleichsam in die Mysterien
des Hellenenthums eingeweiht. 'In ihm findet er das sichere Maß, die Ein¬
seitigkeit des Gefühls wie des Verstandes abzuweisen, in ihm das schöne
Gleichgewicht zwischen dürrer Abstraction und ercrntrischer Phantastik.

In seiner Hauslehrerstelle in Bern 1793—97 sucht er immer nach dem
Vorbilde des classischen Alterthums den rohen theologischen Stoff mit seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/377>, abgerufen am 23.07.2024.