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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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mit seinem Pragmatismus nicht so gefährlich. Die bedenklichsten Stellen
könnten ruhig wegfallen, ohne den Zusammenhang zu stören, und wer Hegel
kennt, laßt sich die mitwirkenden Umstände seiner Bildung als accidentelle
Momente wol gefallen, da er weiß, daß die Hauptsache anderwärts zu suchen
ist. Ader den Unkundigen versus.re Haym noch mehr durch die Versicherung,
Hegels Werk sei nicht das eines Genies, sondern eines Talents, und man
könne es bis zu einer Grenze hin vollständig analysiren. Wenn der indivi¬
duelle Fall die Kritik nicht herausfordert, gegen die Methode muß Protest ein¬
gelegt werde", namentlich da sie seit Gervinus in der Literaturgeschichte
einen unverhältnißmäßigen Raum einnimmt. Es kommt nicht darauf an, ob
man ein Schwabe ist, sondern ob man in specifisch-schwäbischer Umgebung auf¬
wächst; es kommt nicht darauf an, ob man in Leipzig lebt, sondern ob man
alle Tage mit leipziger Spießbürgern Bier trinkt -- es kommt vor allen Dingen
darauf an, ob man eignes Leben genug hat, der umgebenden Atmosphäre
Widerstand zu leisten. Schiller und Hegel sind Schwaben, Kant, Herder und
Hoffmann sind Preußen -- wenn man e.me landschaftliche Gemeinsamkeit bei
ihnen herausfinden will, möglich ist freilich alles, denn wie Haym seinem
Lehrer nachspricht: der Geist erschrickt vor nichts! aber gewonnen wird
damit herzlich wenig. Die alte Literatur ließ ihre Figuren zu sehr in der Luft
schweben, die neue materialistische gibt den Mächten des Bodens zu großen
Spielraum. Noch ein anderes Moment dieses Pragmatismus. Gewiß übt die
Lectüre einen großen Einfluß auf die Bildung aus, und ein ordentlicher Mann
wie Hegel, der bei jedem Buch daS Datum angibt, a" welchem er es gelesen,
bietet seinen Biographen den prächtigsten Stoff; aber man muß mit diesem Stoff
doch vorsichtig umgehn. Es wird wol jeder an sich selbst die Beobachtung
gemacht haben, daß mitunter ein Buch bei der ersten Lectüre trotz der Excerpte
nur einen geringen Eindruck auf ihn machte, daß es Jahrelang unbeachtet in
seinem Gedächtniß schlummerte uno dann plötzlich durch eiuen Einfall, der
nicht aus der Sache kam, in ein ganz neues Licht gestellt wurde und ihn
mächtig elektrisirte. So etwas wirb gewöhnlich in den Ercerplen nicht ange¬
merkt, und darum muß der Biograph mit seinen Schlüssen vorsichtig sei". F^k-
und soll er sie benutze", und Haym hat ganz Recht, wenn er es im vollste"
Umfang thut, aber -- die Bemerkung ist eben nur für diejenigen, die M
etwa aus Haym die Vorstellung bilden, Hegels System sei nichts als eine
Krystallisation seiner Lectüre, und baß diesem falschen Schluß vorgebeugt
werde, wird Haym selbst von der größten Wichtigkeit sein.

Auf die Möglichkeit eines Mißverständnisses aufmerksam zu machen, -se
um so nothwendiger, da Haym mit seinem großen rhetorischen Talent auch
die Neigung zu rhetorischen Wendungen verbindet, eine Neigung, die durch dn
Studium und die Nachbildung Macaulays noch gesteigert wird. Dies Talent


mit seinem Pragmatismus nicht so gefährlich. Die bedenklichsten Stellen
könnten ruhig wegfallen, ohne den Zusammenhang zu stören, und wer Hegel
kennt, laßt sich die mitwirkenden Umstände seiner Bildung als accidentelle
Momente wol gefallen, da er weiß, daß die Hauptsache anderwärts zu suchen
ist. Ader den Unkundigen versus.re Haym noch mehr durch die Versicherung,
Hegels Werk sei nicht das eines Genies, sondern eines Talents, und man
könne es bis zu einer Grenze hin vollständig analysiren. Wenn der indivi¬
duelle Fall die Kritik nicht herausfordert, gegen die Methode muß Protest ein¬
gelegt werde», namentlich da sie seit Gervinus in der Literaturgeschichte
einen unverhältnißmäßigen Raum einnimmt. Es kommt nicht darauf an, ob
man ein Schwabe ist, sondern ob man in specifisch-schwäbischer Umgebung auf¬
wächst; es kommt nicht darauf an, ob man in Leipzig lebt, sondern ob man
alle Tage mit leipziger Spießbürgern Bier trinkt — es kommt vor allen Dingen
darauf an, ob man eignes Leben genug hat, der umgebenden Atmosphäre
Widerstand zu leisten. Schiller und Hegel sind Schwaben, Kant, Herder und
Hoffmann sind Preußen — wenn man e.me landschaftliche Gemeinsamkeit bei
ihnen herausfinden will, möglich ist freilich alles, denn wie Haym seinem
Lehrer nachspricht: der Geist erschrickt vor nichts! aber gewonnen wird
damit herzlich wenig. Die alte Literatur ließ ihre Figuren zu sehr in der Luft
schweben, die neue materialistische gibt den Mächten des Bodens zu großen
Spielraum. Noch ein anderes Moment dieses Pragmatismus. Gewiß übt die
Lectüre einen großen Einfluß auf die Bildung aus, und ein ordentlicher Mann
wie Hegel, der bei jedem Buch daS Datum angibt, a» welchem er es gelesen,
bietet seinen Biographen den prächtigsten Stoff; aber man muß mit diesem Stoff
doch vorsichtig umgehn. Es wird wol jeder an sich selbst die Beobachtung
gemacht haben, daß mitunter ein Buch bei der ersten Lectüre trotz der Excerpte
nur einen geringen Eindruck auf ihn machte, daß es Jahrelang unbeachtet in
seinem Gedächtniß schlummerte uno dann plötzlich durch eiuen Einfall, der
nicht aus der Sache kam, in ein ganz neues Licht gestellt wurde und ihn
mächtig elektrisirte. So etwas wirb gewöhnlich in den Ercerplen nicht ange¬
merkt, und darum muß der Biograph mit seinen Schlüssen vorsichtig sei». F^k-
und soll er sie benutze», und Haym hat ganz Recht, wenn er es im vollste»
Umfang thut, aber — die Bemerkung ist eben nur für diejenigen, die M
etwa aus Haym die Vorstellung bilden, Hegels System sei nichts als eine
Krystallisation seiner Lectüre, und baß diesem falschen Schluß vorgebeugt
werde, wird Haym selbst von der größten Wichtigkeit sein.

Auf die Möglichkeit eines Mißverständnisses aufmerksam zu machen, -se
um so nothwendiger, da Haym mit seinem großen rhetorischen Talent auch
die Neigung zu rhetorischen Wendungen verbindet, eine Neigung, die durch dn
Studium und die Nachbildung Macaulays noch gesteigert wird. Dies Talent


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[0374] mit seinem Pragmatismus nicht so gefährlich. Die bedenklichsten Stellen könnten ruhig wegfallen, ohne den Zusammenhang zu stören, und wer Hegel kennt, laßt sich die mitwirkenden Umstände seiner Bildung als accidentelle Momente wol gefallen, da er weiß, daß die Hauptsache anderwärts zu suchen ist. Ader den Unkundigen versus.re Haym noch mehr durch die Versicherung, Hegels Werk sei nicht das eines Genies, sondern eines Talents, und man könne es bis zu einer Grenze hin vollständig analysiren. Wenn der indivi¬ duelle Fall die Kritik nicht herausfordert, gegen die Methode muß Protest ein¬ gelegt werde», namentlich da sie seit Gervinus in der Literaturgeschichte einen unverhältnißmäßigen Raum einnimmt. Es kommt nicht darauf an, ob man ein Schwabe ist, sondern ob man in specifisch-schwäbischer Umgebung auf¬ wächst; es kommt nicht darauf an, ob man in Leipzig lebt, sondern ob man alle Tage mit leipziger Spießbürgern Bier trinkt — es kommt vor allen Dingen darauf an, ob man eignes Leben genug hat, der umgebenden Atmosphäre Widerstand zu leisten. Schiller und Hegel sind Schwaben, Kant, Herder und Hoffmann sind Preußen — wenn man e.me landschaftliche Gemeinsamkeit bei ihnen herausfinden will, möglich ist freilich alles, denn wie Haym seinem Lehrer nachspricht: der Geist erschrickt vor nichts! aber gewonnen wird damit herzlich wenig. Die alte Literatur ließ ihre Figuren zu sehr in der Luft schweben, die neue materialistische gibt den Mächten des Bodens zu großen Spielraum. Noch ein anderes Moment dieses Pragmatismus. Gewiß übt die Lectüre einen großen Einfluß auf die Bildung aus, und ein ordentlicher Mann wie Hegel, der bei jedem Buch daS Datum angibt, a» welchem er es gelesen, bietet seinen Biographen den prächtigsten Stoff; aber man muß mit diesem Stoff doch vorsichtig umgehn. Es wird wol jeder an sich selbst die Beobachtung gemacht haben, daß mitunter ein Buch bei der ersten Lectüre trotz der Excerpte nur einen geringen Eindruck auf ihn machte, daß es Jahrelang unbeachtet in seinem Gedächtniß schlummerte uno dann plötzlich durch eiuen Einfall, der nicht aus der Sache kam, in ein ganz neues Licht gestellt wurde und ihn mächtig elektrisirte. So etwas wirb gewöhnlich in den Ercerplen nicht ange¬ merkt, und darum muß der Biograph mit seinen Schlüssen vorsichtig sei». F^k- und soll er sie benutze», und Haym hat ganz Recht, wenn er es im vollste» Umfang thut, aber — die Bemerkung ist eben nur für diejenigen, die M etwa aus Haym die Vorstellung bilden, Hegels System sei nichts als eine Krystallisation seiner Lectüre, und baß diesem falschen Schluß vorgebeugt werde, wird Haym selbst von der größten Wichtigkeit sein. Auf die Möglichkeit eines Mißverständnisses aufmerksam zu machen, -se um so nothwendiger, da Haym mit seinem großen rhetorischen Talent auch die Neigung zu rhetorischen Wendungen verbindet, eine Neigung, die durch dn Studium und die Nachbildung Macaulays noch gesteigert wird. Dies Talent

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/374>, abgerufen am 23.07.2024.