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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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zu können. Nimmt man letzteres an, so muß man zugeben, daß Hung sin
Thinen an die Inspiration N^ngs glaubte, und das ist allerdings möglich. Er
wußte unzweifelhaft aus der Geschichte seines Landes, daß Minister, die sich
erlaubten, den Kaiser zu tadeln, mehr als einmal, wenn ihre Vorwürfe gerecht
befunden worden, Lob und Lohn dafür empfangen hatten. Die Sprache
Aangs war eine durchaus ehrerbietige gewesen. Endlich hatte Gott in der
Bibel häufig nicht blos zu den Menschen, sondern auch durch Menschen ge¬
sprochen, unter andern Fällen durch Nathan zu David, ein Beispiel, welches
sich recht wohl als Parallele zu jeuer -Ermahnung Hungs durch Aang sin
Tsing herbeiziehen läßt.

Die Moral der Taipings ist bisher streng gewesen, und eine Entartung
derselben für die nächste Zeit nicht wahrscheinlich. In ihren Vorstellungen von
Gott und der geistigen Welt dagegen scheinen sie sich immer mehr anthropo-
morphistischen Ansichten zu nähern -- Ansichten, mit denen sie sich in viele"
Stücken mit den Mormonen vergleichen lassen, an die sie überhaupt in man¬
cherlei Beziehungen erinnern. Der Gottvater der TaipingS hat einen mensch¬
lichen Körper, menschliche Beschäftigung, sogar menschliche Kleidung. Die
Jungfrau Maria ist seine Gemahlin im Himmel und hat außer Jesus mehre
Söhne von ihm. Einige geben eine von den Göttinnen des chinesischen Pan¬
theons Jesu zur Frau, und lassen ihn Söhne und Töchter haben, welche so¬
mit die Enkel Gottes des Vaters sind. Daß der östliche Fürst sich als den
im neuen Testament verheißenen Tröster gerirt, ist schon erwähnt, und es ist,
wenn eS Hung nicht gelingt, das mystisch-phantastische Element zu beschrän¬
ken und endlich ganz aus seiner Nähe zu verbannen, nicht unmöglich, daß
sich aus diesen Anfängen ein neues polytheistisches System entwickelt oder viel¬
mehr das alte mit so furchtbarer Strenge ausgerottete neue Sprossen und
Zweige treibt -- beiläufig ganz so wie im christlich-germanischen Mittelalter.

Daß die Taipings Polygamisten sind, ist nicht zu verwundern. In China
ist die Vielweiberei Volkssitte, das alte Testament erkennt sie als zu Recht
bestehend an, das neue verbietet sie wenigstens nicht direct. Es war somit
kein Grund vorhanden, sie abzuschaffen. Dagegen bestrafen sie geschlechtliche
Vergehungen, namentlich Ehebruch und Nothzucht, und zwar letztere selbst,
wenn sie an Frauen feindlicher Städte verübt wird, unerbittlich mit dem Tode,
und nächst der Anbetung falscher Götter gibt es kein Verbrechen, welches der
himmlische Fürst so streng verurtheilt, als das eines ungebundenen Verkehrs
zwischen den Geschlechtern. Das ist aber von Bedeutung, wenn man weiß,
daß die Chinesen im Allgemeinen das ausschweifendste Volk der Erde sind.

Die Eigenthümlichkeiten des Christenthums der Taipings, die wir im
Vorigen darstellten, sind theils Unvollkommenheiten, theils Auswüchse. Sie
schreiben sich theils aus der chinesischen Natur überhaupt, theils davon, daß


zu können. Nimmt man letzteres an, so muß man zugeben, daß Hung sin
Thinen an die Inspiration N^ngs glaubte, und das ist allerdings möglich. Er
wußte unzweifelhaft aus der Geschichte seines Landes, daß Minister, die sich
erlaubten, den Kaiser zu tadeln, mehr als einmal, wenn ihre Vorwürfe gerecht
befunden worden, Lob und Lohn dafür empfangen hatten. Die Sprache
Aangs war eine durchaus ehrerbietige gewesen. Endlich hatte Gott in der
Bibel häufig nicht blos zu den Menschen, sondern auch durch Menschen ge¬
sprochen, unter andern Fällen durch Nathan zu David, ein Beispiel, welches
sich recht wohl als Parallele zu jeuer -Ermahnung Hungs durch Aang sin
Tsing herbeiziehen läßt.

Die Moral der Taipings ist bisher streng gewesen, und eine Entartung
derselben für die nächste Zeit nicht wahrscheinlich. In ihren Vorstellungen von
Gott und der geistigen Welt dagegen scheinen sie sich immer mehr anthropo-
morphistischen Ansichten zu nähern — Ansichten, mit denen sie sich in viele»
Stücken mit den Mormonen vergleichen lassen, an die sie überhaupt in man¬
cherlei Beziehungen erinnern. Der Gottvater der TaipingS hat einen mensch¬
lichen Körper, menschliche Beschäftigung, sogar menschliche Kleidung. Die
Jungfrau Maria ist seine Gemahlin im Himmel und hat außer Jesus mehre
Söhne von ihm. Einige geben eine von den Göttinnen des chinesischen Pan¬
theons Jesu zur Frau, und lassen ihn Söhne und Töchter haben, welche so¬
mit die Enkel Gottes des Vaters sind. Daß der östliche Fürst sich als den
im neuen Testament verheißenen Tröster gerirt, ist schon erwähnt, und es ist,
wenn eS Hung nicht gelingt, das mystisch-phantastische Element zu beschrän¬
ken und endlich ganz aus seiner Nähe zu verbannen, nicht unmöglich, daß
sich aus diesen Anfängen ein neues polytheistisches System entwickelt oder viel¬
mehr das alte mit so furchtbarer Strenge ausgerottete neue Sprossen und
Zweige treibt — beiläufig ganz so wie im christlich-germanischen Mittelalter.

Daß die Taipings Polygamisten sind, ist nicht zu verwundern. In China
ist die Vielweiberei Volkssitte, das alte Testament erkennt sie als zu Recht
bestehend an, das neue verbietet sie wenigstens nicht direct. Es war somit
kein Grund vorhanden, sie abzuschaffen. Dagegen bestrafen sie geschlechtliche
Vergehungen, namentlich Ehebruch und Nothzucht, und zwar letztere selbst,
wenn sie an Frauen feindlicher Städte verübt wird, unerbittlich mit dem Tode,
und nächst der Anbetung falscher Götter gibt es kein Verbrechen, welches der
himmlische Fürst so streng verurtheilt, als das eines ungebundenen Verkehrs
zwischen den Geschlechtern. Das ist aber von Bedeutung, wenn man weiß,
daß die Chinesen im Allgemeinen das ausschweifendste Volk der Erde sind.

Die Eigenthümlichkeiten des Christenthums der Taipings, die wir im
Vorigen darstellten, sind theils Unvollkommenheiten, theils Auswüchse. Sie
schreiben sich theils aus der chinesischen Natur überhaupt, theils davon, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/278>, abgerufen am 23.07.2024.