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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Fahrt nach Alerandria, wohin beide sich einschiffen, wird ihr Fahrzeug vom
Sturme erfaßt und scheitert an der ägyptischen Küste. Auch sie gerathen hier
in die Macht eines räuberischen NolkcS und Leukippe hat ebenso viel Stolz,
als früher Chäriklea, sich den zahlreichen Bewerbern zu entziehen. Zuletzt
wird sie vom Klitophon getrennt und erst nach den buntesten Abenteuern in
Ephesus wieder mit ihm zusammengeführt. In dieser Stadt findet sie denn
endlich auch die Verzeihung ihrer Eltern und sie kehren nach Tyrus zurück. --

Man hat wol die Frage aufgeworfen und verschieden beantwortet, ob der
Roman des Heliodor oder des Tatius der ältere ist. Bei aller Aehnlichkeit
der beiden Werke scheint doch zu Ungunsten pes letzteren zu sprechen, daß er,
unfähig, neue und wirklich wechselvolle Abenteuer zu erfinden, nur die von
Heliodor schon eingeführten wieder angewandt, aber wie Nachahmer zu thun
Pflegen, in hohem Grade carikirt und übertrieben hat. Entführung, Seefahrt,
Raub, vermeintlicher Tod, Proceßreden, Gottesurtheile bilden den Inhalt
beider Romane. Aber während z. B. Heliodor sich damit begnügt, daß seine
Chäriklea viermal geraubt wird, thut Tatius einen kühnen Griff, indem er
seine Leukippe nicht blos viermal rauben, sondern auch dreimal sterben
läßt. Daher weist denn auch der Verstand des Lesers, von so viel Schreck¬
nissen ermüdet, jede weitere Aufregung mit denselben Gründen zurück, mit
denen Klitophon durch seinen Vetter Klimas getröstet wird. "Weh mir, ruft
Klitophon, als er erfährt, daß Leukippe an Gift gestorben ist, weh mir, wie
"se bist du mir gestorben? Soll ich niemals aufhören zu klagen? Sollen alle
Todesarten sich einander bei dir folgen?" KliniaS aber tröstete ihn: "Wer
weiß denn, ob sie nicht wieder auflebt? Ist sie nicht schon vielmals gestorben?
Warum willst du dich voreilig tödten? Du kannst das noch immer in Muße
thun, wenn du ihren Tod sicher erfahren hast?" (VII, 3). Ueberhaupt be¬
handelt der Versasser, so außerordentlichen Werth er auf die Sprache legt, die
Fabel des Romans mit großer Gleichgiltigkeit. In der Kette der Ereignisse
das Princip der Wahrscheinlichkeit aufrecht zu erhalten, Lücken und andere
Störungen durch strenge Ordnung und Gliederung zu vermeiden, -- diese
Forderung scheint ihn nicht zu beunruhigen.

Auch der dritte Roman, der noch zu erwähnen wäre, hat große Aehnlich-
keiten mit den früher genannten, obgleich der Verfasser einen mächtigen An¬
lauf genommen, um der Lesewelt seiner Zeit etwas Neues zu bieten. Leider
'se dich-. Verfasser, seine Heimath, sein Jahrhundert, ja selbst sein Name
zweifelhaft. Der Titel des Werkes ist: Longus vier Bücher des Hirten¬
lebens des Daphnis und der Chloe. Es ist möglich, daß diesem
Romane irgend eine wahre Geschichte wenigstens in den Hauptzügen zu Grunde
liegt. Der Erzähler beginnt nämlich mit einem Vorworte, wie er in Lesbos
auf der Jagd in einem Nymphenhain ein berühmtes Gemälde gesehen und


Fahrt nach Alerandria, wohin beide sich einschiffen, wird ihr Fahrzeug vom
Sturme erfaßt und scheitert an der ägyptischen Küste. Auch sie gerathen hier
in die Macht eines räuberischen NolkcS und Leukippe hat ebenso viel Stolz,
als früher Chäriklea, sich den zahlreichen Bewerbern zu entziehen. Zuletzt
wird sie vom Klitophon getrennt und erst nach den buntesten Abenteuern in
Ephesus wieder mit ihm zusammengeführt. In dieser Stadt findet sie denn
endlich auch die Verzeihung ihrer Eltern und sie kehren nach Tyrus zurück. —

Man hat wol die Frage aufgeworfen und verschieden beantwortet, ob der
Roman des Heliodor oder des Tatius der ältere ist. Bei aller Aehnlichkeit
der beiden Werke scheint doch zu Ungunsten pes letzteren zu sprechen, daß er,
unfähig, neue und wirklich wechselvolle Abenteuer zu erfinden, nur die von
Heliodor schon eingeführten wieder angewandt, aber wie Nachahmer zu thun
Pflegen, in hohem Grade carikirt und übertrieben hat. Entführung, Seefahrt,
Raub, vermeintlicher Tod, Proceßreden, Gottesurtheile bilden den Inhalt
beider Romane. Aber während z. B. Heliodor sich damit begnügt, daß seine
Chäriklea viermal geraubt wird, thut Tatius einen kühnen Griff, indem er
seine Leukippe nicht blos viermal rauben, sondern auch dreimal sterben
läßt. Daher weist denn auch der Verstand des Lesers, von so viel Schreck¬
nissen ermüdet, jede weitere Aufregung mit denselben Gründen zurück, mit
denen Klitophon durch seinen Vetter Klimas getröstet wird. „Weh mir, ruft
Klitophon, als er erfährt, daß Leukippe an Gift gestorben ist, weh mir, wie
"se bist du mir gestorben? Soll ich niemals aufhören zu klagen? Sollen alle
Todesarten sich einander bei dir folgen?" KliniaS aber tröstete ihn: „Wer
weiß denn, ob sie nicht wieder auflebt? Ist sie nicht schon vielmals gestorben?
Warum willst du dich voreilig tödten? Du kannst das noch immer in Muße
thun, wenn du ihren Tod sicher erfahren hast?" (VII, 3). Ueberhaupt be¬
handelt der Versasser, so außerordentlichen Werth er auf die Sprache legt, die
Fabel des Romans mit großer Gleichgiltigkeit. In der Kette der Ereignisse
das Princip der Wahrscheinlichkeit aufrecht zu erhalten, Lücken und andere
Störungen durch strenge Ordnung und Gliederung zu vermeiden, — diese
Forderung scheint ihn nicht zu beunruhigen.

Auch der dritte Roman, der noch zu erwähnen wäre, hat große Aehnlich-
keiten mit den früher genannten, obgleich der Verfasser einen mächtigen An¬
lauf genommen, um der Lesewelt seiner Zeit etwas Neues zu bieten. Leider
'se dich-. Verfasser, seine Heimath, sein Jahrhundert, ja selbst sein Name
zweifelhaft. Der Titel des Werkes ist: Longus vier Bücher des Hirten¬
lebens des Daphnis und der Chloe. Es ist möglich, daß diesem
Romane irgend eine wahre Geschichte wenigstens in den Hauptzügen zu Grunde
liegt. Der Erzähler beginnt nämlich mit einem Vorworte, wie er in Lesbos
auf der Jagd in einem Nymphenhain ein berühmtes Gemälde gesehen und


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[0071] Fahrt nach Alerandria, wohin beide sich einschiffen, wird ihr Fahrzeug vom Sturme erfaßt und scheitert an der ägyptischen Küste. Auch sie gerathen hier in die Macht eines räuberischen NolkcS und Leukippe hat ebenso viel Stolz, als früher Chäriklea, sich den zahlreichen Bewerbern zu entziehen. Zuletzt wird sie vom Klitophon getrennt und erst nach den buntesten Abenteuern in Ephesus wieder mit ihm zusammengeführt. In dieser Stadt findet sie denn endlich auch die Verzeihung ihrer Eltern und sie kehren nach Tyrus zurück. — Man hat wol die Frage aufgeworfen und verschieden beantwortet, ob der Roman des Heliodor oder des Tatius der ältere ist. Bei aller Aehnlichkeit der beiden Werke scheint doch zu Ungunsten pes letzteren zu sprechen, daß er, unfähig, neue und wirklich wechselvolle Abenteuer zu erfinden, nur die von Heliodor schon eingeführten wieder angewandt, aber wie Nachahmer zu thun Pflegen, in hohem Grade carikirt und übertrieben hat. Entführung, Seefahrt, Raub, vermeintlicher Tod, Proceßreden, Gottesurtheile bilden den Inhalt beider Romane. Aber während z. B. Heliodor sich damit begnügt, daß seine Chäriklea viermal geraubt wird, thut Tatius einen kühnen Griff, indem er seine Leukippe nicht blos viermal rauben, sondern auch dreimal sterben läßt. Daher weist denn auch der Verstand des Lesers, von so viel Schreck¬ nissen ermüdet, jede weitere Aufregung mit denselben Gründen zurück, mit denen Klitophon durch seinen Vetter Klimas getröstet wird. „Weh mir, ruft Klitophon, als er erfährt, daß Leukippe an Gift gestorben ist, weh mir, wie "se bist du mir gestorben? Soll ich niemals aufhören zu klagen? Sollen alle Todesarten sich einander bei dir folgen?" KliniaS aber tröstete ihn: „Wer weiß denn, ob sie nicht wieder auflebt? Ist sie nicht schon vielmals gestorben? Warum willst du dich voreilig tödten? Du kannst das noch immer in Muße thun, wenn du ihren Tod sicher erfahren hast?" (VII, 3). Ueberhaupt be¬ handelt der Versasser, so außerordentlichen Werth er auf die Sprache legt, die Fabel des Romans mit großer Gleichgiltigkeit. In der Kette der Ereignisse das Princip der Wahrscheinlichkeit aufrecht zu erhalten, Lücken und andere Störungen durch strenge Ordnung und Gliederung zu vermeiden, — diese Forderung scheint ihn nicht zu beunruhigen. Auch der dritte Roman, der noch zu erwähnen wäre, hat große Aehnlich- keiten mit den früher genannten, obgleich der Verfasser einen mächtigen An¬ lauf genommen, um der Lesewelt seiner Zeit etwas Neues zu bieten. Leider 'se dich-. Verfasser, seine Heimath, sein Jahrhundert, ja selbst sein Name zweifelhaft. Der Titel des Werkes ist: Longus vier Bücher des Hirten¬ lebens des Daphnis und der Chloe. Es ist möglich, daß diesem Romane irgend eine wahre Geschichte wenigstens in den Hauptzügen zu Grunde liegt. Der Erzähler beginnt nämlich mit einem Vorworte, wie er in Lesbos auf der Jagd in einem Nymphenhain ein berühmtes Gemälde gesehen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/71>, abgerufen am 22.07.2024.