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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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den Entschluß gefaßt habe, den dargestellten Gegenstand in einem Romane zu
verarbeiten. Er theilt uns dann mit, daß ein Hirt auf Lesbos einst einen aus¬
gesetzten Knaben, und ein anderer Hirt zwei Jahre später in einer Grotte ein
Mädchen fand. Daphnis und Chloe, die Herden ihrer Pflegeeltern nebeneinander
weidend, verbringen ihre Kinderjahre in den einfachen Freuden des Hirtenlebens.
Mit den Jahren wächst ihre Neigung zueinander. Die Liebenden haben aber mit
mancherlei Hindernissen zu kämpfen, ehe sie den Hasen der Ehe erreichen. Bald
ist es irgend ein Hirt, der die Chloe mit Anträgen bestürmt, und zurückgewiesen
Nachepläne auszuführen strebt. Bald geräth Daphnis in einen verdrießlichen
Streit, in dem er von der Chloe getrennt wird. Einmal verwickelt er sich in einen
Kampf mit, einer Jagdgesellschaft junger Methymnäer, und bringt dadurch selbst
Kriegsgefahr über sein Vaterland. Glücklicherweise werden Daphnis und Chloe
zuletzt von zwei reichen Bürgern der nahen Stadt Mitylene, als ihre ehemals
ausgesetzten Kinder erkannt und nun miteinander verbunden. Der Verfasser,
der sich nur ungern von seiner Geschichte zu trennen scheint, erzählt auch noch
weiter, daß ihre Ehe eine gesegnete gewesen, und daß sie bis in das höchste
Greisenalter glücklich gelebt haben. Von einer feinberechneten Knotenschürzung,
von künstlerischer Verflechtung der Abenteuer kann bei einem Romane, der
nichts als eine annalistisch gehaltene Lebensbeschreibung ist, wol kaum die
Rede sein. Longus beginnt mit der Geburt seiner Hirten und hört nicht ein¬
mal mit der Heirath auf. Er schildert einen Hirtenzustand, in den einige
Abenteuer aus der großen Welt hineinplatzen müssen, um etwas Veränderung
in die Eintönigkeit der Idylle zu bringen. Von ländlichen Zuständen erfahren
wir nicht mehr, als jeder weiß, der eine Herde weiden sah, eine Schalmeie
blasen hörte, in einem Weinberge Trauben pflückte und überzeugt ist, daß
Hirten sich verlieben können. Wie die menschlichen Leidenschaften sich in den
Herzen einfacher Hirten entwickeln und formen, wie in der engen Hütte des
Landmannes die Tragik und Komik deö menschlichen Lebens sich abspielt, wie
hier der Haß zerstört und die Liebe kämpft und siegt und aufbaut -- kurz,
die wahrhaft geistige Atmosphäre deS Landlebens hat der Verfasser nicht zu
ergreifen und nicht zu schildern gewußt. Die meisten der Ereignisse, aus denen
Longus seinen Roman zusammenbaut, sind von den Vorgängern entlehnt,
deren Motive, Seeräuber, Krieg, Erkennungszeichen, Entführungen und
Proceßreden er aus dem lebendigen Triebwerk der großen Welt auf den zarten
Boden einer Dorfidylle verpflanzt. Dabei führt der Verfasser seine Helden
leichtsinnig in Verwicklungen, in denen sie untergehen würden, wenn nicht
irgend ein wohlwollender cien3 ex maekinu zur rechten Zeit sich einstellte und
die Geschicklichkeit des Verfassers corrigirte. Daphnis würde schon im ersten
Buche deS Romans sich nicht aus der Gewalt der Seeräuber befreit haben,
wenn nicht eine Zauberflöte ihn gerettet hätte; seine Chloe wäre nach Me-


den Entschluß gefaßt habe, den dargestellten Gegenstand in einem Romane zu
verarbeiten. Er theilt uns dann mit, daß ein Hirt auf Lesbos einst einen aus¬
gesetzten Knaben, und ein anderer Hirt zwei Jahre später in einer Grotte ein
Mädchen fand. Daphnis und Chloe, die Herden ihrer Pflegeeltern nebeneinander
weidend, verbringen ihre Kinderjahre in den einfachen Freuden des Hirtenlebens.
Mit den Jahren wächst ihre Neigung zueinander. Die Liebenden haben aber mit
mancherlei Hindernissen zu kämpfen, ehe sie den Hasen der Ehe erreichen. Bald
ist es irgend ein Hirt, der die Chloe mit Anträgen bestürmt, und zurückgewiesen
Nachepläne auszuführen strebt. Bald geräth Daphnis in einen verdrießlichen
Streit, in dem er von der Chloe getrennt wird. Einmal verwickelt er sich in einen
Kampf mit, einer Jagdgesellschaft junger Methymnäer, und bringt dadurch selbst
Kriegsgefahr über sein Vaterland. Glücklicherweise werden Daphnis und Chloe
zuletzt von zwei reichen Bürgern der nahen Stadt Mitylene, als ihre ehemals
ausgesetzten Kinder erkannt und nun miteinander verbunden. Der Verfasser,
der sich nur ungern von seiner Geschichte zu trennen scheint, erzählt auch noch
weiter, daß ihre Ehe eine gesegnete gewesen, und daß sie bis in das höchste
Greisenalter glücklich gelebt haben. Von einer feinberechneten Knotenschürzung,
von künstlerischer Verflechtung der Abenteuer kann bei einem Romane, der
nichts als eine annalistisch gehaltene Lebensbeschreibung ist, wol kaum die
Rede sein. Longus beginnt mit der Geburt seiner Hirten und hört nicht ein¬
mal mit der Heirath auf. Er schildert einen Hirtenzustand, in den einige
Abenteuer aus der großen Welt hineinplatzen müssen, um etwas Veränderung
in die Eintönigkeit der Idylle zu bringen. Von ländlichen Zuständen erfahren
wir nicht mehr, als jeder weiß, der eine Herde weiden sah, eine Schalmeie
blasen hörte, in einem Weinberge Trauben pflückte und überzeugt ist, daß
Hirten sich verlieben können. Wie die menschlichen Leidenschaften sich in den
Herzen einfacher Hirten entwickeln und formen, wie in der engen Hütte des
Landmannes die Tragik und Komik deö menschlichen Lebens sich abspielt, wie
hier der Haß zerstört und die Liebe kämpft und siegt und aufbaut — kurz,
die wahrhaft geistige Atmosphäre deS Landlebens hat der Verfasser nicht zu
ergreifen und nicht zu schildern gewußt. Die meisten der Ereignisse, aus denen
Longus seinen Roman zusammenbaut, sind von den Vorgängern entlehnt,
deren Motive, Seeräuber, Krieg, Erkennungszeichen, Entführungen und
Proceßreden er aus dem lebendigen Triebwerk der großen Welt auf den zarten
Boden einer Dorfidylle verpflanzt. Dabei führt der Verfasser seine Helden
leichtsinnig in Verwicklungen, in denen sie untergehen würden, wenn nicht
irgend ein wohlwollender cien3 ex maekinu zur rechten Zeit sich einstellte und
die Geschicklichkeit des Verfassers corrigirte. Daphnis würde schon im ersten
Buche deS Romans sich nicht aus der Gewalt der Seeräuber befreit haben,
wenn nicht eine Zauberflöte ihn gerettet hätte; seine Chloe wäre nach Me-


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[0072] den Entschluß gefaßt habe, den dargestellten Gegenstand in einem Romane zu verarbeiten. Er theilt uns dann mit, daß ein Hirt auf Lesbos einst einen aus¬ gesetzten Knaben, und ein anderer Hirt zwei Jahre später in einer Grotte ein Mädchen fand. Daphnis und Chloe, die Herden ihrer Pflegeeltern nebeneinander weidend, verbringen ihre Kinderjahre in den einfachen Freuden des Hirtenlebens. Mit den Jahren wächst ihre Neigung zueinander. Die Liebenden haben aber mit mancherlei Hindernissen zu kämpfen, ehe sie den Hasen der Ehe erreichen. Bald ist es irgend ein Hirt, der die Chloe mit Anträgen bestürmt, und zurückgewiesen Nachepläne auszuführen strebt. Bald geräth Daphnis in einen verdrießlichen Streit, in dem er von der Chloe getrennt wird. Einmal verwickelt er sich in einen Kampf mit, einer Jagdgesellschaft junger Methymnäer, und bringt dadurch selbst Kriegsgefahr über sein Vaterland. Glücklicherweise werden Daphnis und Chloe zuletzt von zwei reichen Bürgern der nahen Stadt Mitylene, als ihre ehemals ausgesetzten Kinder erkannt und nun miteinander verbunden. Der Verfasser, der sich nur ungern von seiner Geschichte zu trennen scheint, erzählt auch noch weiter, daß ihre Ehe eine gesegnete gewesen, und daß sie bis in das höchste Greisenalter glücklich gelebt haben. Von einer feinberechneten Knotenschürzung, von künstlerischer Verflechtung der Abenteuer kann bei einem Romane, der nichts als eine annalistisch gehaltene Lebensbeschreibung ist, wol kaum die Rede sein. Longus beginnt mit der Geburt seiner Hirten und hört nicht ein¬ mal mit der Heirath auf. Er schildert einen Hirtenzustand, in den einige Abenteuer aus der großen Welt hineinplatzen müssen, um etwas Veränderung in die Eintönigkeit der Idylle zu bringen. Von ländlichen Zuständen erfahren wir nicht mehr, als jeder weiß, der eine Herde weiden sah, eine Schalmeie blasen hörte, in einem Weinberge Trauben pflückte und überzeugt ist, daß Hirten sich verlieben können. Wie die menschlichen Leidenschaften sich in den Herzen einfacher Hirten entwickeln und formen, wie in der engen Hütte des Landmannes die Tragik und Komik deö menschlichen Lebens sich abspielt, wie hier der Haß zerstört und die Liebe kämpft und siegt und aufbaut — kurz, die wahrhaft geistige Atmosphäre deS Landlebens hat der Verfasser nicht zu ergreifen und nicht zu schildern gewußt. Die meisten der Ereignisse, aus denen Longus seinen Roman zusammenbaut, sind von den Vorgängern entlehnt, deren Motive, Seeräuber, Krieg, Erkennungszeichen, Entführungen und Proceßreden er aus dem lebendigen Triebwerk der großen Welt auf den zarten Boden einer Dorfidylle verpflanzt. Dabei führt der Verfasser seine Helden leichtsinnig in Verwicklungen, in denen sie untergehen würden, wenn nicht irgend ein wohlwollender cien3 ex maekinu zur rechten Zeit sich einstellte und die Geschicklichkeit des Verfassers corrigirte. Daphnis würde schon im ersten Buche deS Romans sich nicht aus der Gewalt der Seeräuber befreit haben, wenn nicht eine Zauberflöte ihn gerettet hätte; seine Chloe wäre nach Me-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/72>, abgerufen am 24.08.2024.