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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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hat immer dieselben Folgen: Chäriklea fesselt durch ihre Schönheit die Herzen
der Männer, in deren Gewalt sie sich grade befindet. Daraus entsteht denn
immer dieselbe Verlegenheit: sie muß durch ein vorsichtiges und geschicktes Be¬
nehmen die Rücksichten gegen ihre Gebieter mit der Treue gegen den TheageneS
verbinden. Mit den ähnlichen Situationen wiederholen sich auch Ähnliche
Reflexionen. Wenn dennoch Heliodor selbst von einem Tasso als guter Er¬
zähler gepriesen wird, wenn Racine diesen Roman in dem Grade liebgewann,
daß er ihn auswendig lernte, als seine Lehrer ihm zwei Exemplare nach¬
einander confiscire und verbrannt hatten, so kann mit jenem Lobe nur ge¬
meint sein, daß der Verfasser in planvoller Weise die Abenteuer seiner Helden
zur Gesammthandlung verbunden, und daß er sie anziehend geschildert
hat. Es ist wahr, daß er den Leser sofort in den Strom der Ereignisse ver¬
setzt und daß, um das Bild des Michael Psellus, eines Gelehrten des
1-1. Jahrhunderts, zu wiederholen, "dieser Roman einer Schlange gleicht, die
sich in ihren Schwanz beißt." Auch ist seine Sprache, wenngleich zuweilen
affectirt, doch belebt, selbst schwungvoll und erinnert in ihrer Reinheit an die
glänzendste Epoche der attischen Literatur. Aber schon die an sich gute An¬
lage seiner Erzählung führte ihn an eine Klippe, die er nicht immer mit Glück
vermied, indem er die Ereignisse, die er oft nachholend erzählen mußte, zu¬
weilen in einer unerträglichen Weise ineinanderschachtelt. Es ist daher natür¬
lich, daß der Leser oft nur mit Mühe zugleich die Hauptsituation festhalten
und den Verschlingungen der eingeschachtelten Nebengeschichten folgen kann.
Seinen Episoden muß man häufig den Vorwurf unverhältnißmäßiger Länge
machen. Der Neugrieche Koraes versichert zwar, daß der Verfasser die Regel
des Aristoteles befolge, nach welcher die Episode nur dann gerechtfertigt ist,
wenn sich ohne sie das Ganze nicht verstehen läßt. Aber diese Regel enthält
offenbar nicht die ganze Wahrheit. Denn die Episode muß nicht blos aus
dem Gegenstande entspringen und ihn erklären, sie muß auch als Theil in
harmonischem Verhältniß zum Ganzen stehen.

Wir besitzen außer diesem Romane nur noch zwei, die der Besprechung
ebenso werth sind, als das Werk des Heliodor, und mit diesem zusammen
als Grundlage einer allgemeineren Betrachtung dieser Literatur dienen können.
Wir meinen zunächst den Roman des Achilles Tatius, der im 3. Jahr¬
hundert n. Chr. in Alerandria gelebt zu haben scheint. Er hat uns unter
dem Titel "Erotika" die Liebe deS Klitophon und der Leukippe beschrieben.
Klitophon in Tyrus lernt die Leukippe kennen, eine junge Byzantinerin, die
von ihrem Vater wegen einer von Seiten der Thracier drohenden Kriegs¬
gefahr nach Tyrus in Sicherheit gebracht ist. Klitophon gewinnt die Neigung
der Leukippe, und da er von seinem Vater zu einer andern Heirath gezwungen
werden soll, so wird das junge Paar bald über die Flucht einig. Auf der


hat immer dieselben Folgen: Chäriklea fesselt durch ihre Schönheit die Herzen
der Männer, in deren Gewalt sie sich grade befindet. Daraus entsteht denn
immer dieselbe Verlegenheit: sie muß durch ein vorsichtiges und geschicktes Be¬
nehmen die Rücksichten gegen ihre Gebieter mit der Treue gegen den TheageneS
verbinden. Mit den ähnlichen Situationen wiederholen sich auch Ähnliche
Reflexionen. Wenn dennoch Heliodor selbst von einem Tasso als guter Er¬
zähler gepriesen wird, wenn Racine diesen Roman in dem Grade liebgewann,
daß er ihn auswendig lernte, als seine Lehrer ihm zwei Exemplare nach¬
einander confiscire und verbrannt hatten, so kann mit jenem Lobe nur ge¬
meint sein, daß der Verfasser in planvoller Weise die Abenteuer seiner Helden
zur Gesammthandlung verbunden, und daß er sie anziehend geschildert
hat. Es ist wahr, daß er den Leser sofort in den Strom der Ereignisse ver¬
setzt und daß, um das Bild des Michael Psellus, eines Gelehrten des
1-1. Jahrhunderts, zu wiederholen, „dieser Roman einer Schlange gleicht, die
sich in ihren Schwanz beißt." Auch ist seine Sprache, wenngleich zuweilen
affectirt, doch belebt, selbst schwungvoll und erinnert in ihrer Reinheit an die
glänzendste Epoche der attischen Literatur. Aber schon die an sich gute An¬
lage seiner Erzählung führte ihn an eine Klippe, die er nicht immer mit Glück
vermied, indem er die Ereignisse, die er oft nachholend erzählen mußte, zu¬
weilen in einer unerträglichen Weise ineinanderschachtelt. Es ist daher natür¬
lich, daß der Leser oft nur mit Mühe zugleich die Hauptsituation festhalten
und den Verschlingungen der eingeschachtelten Nebengeschichten folgen kann.
Seinen Episoden muß man häufig den Vorwurf unverhältnißmäßiger Länge
machen. Der Neugrieche Koraes versichert zwar, daß der Verfasser die Regel
des Aristoteles befolge, nach welcher die Episode nur dann gerechtfertigt ist,
wenn sich ohne sie das Ganze nicht verstehen läßt. Aber diese Regel enthält
offenbar nicht die ganze Wahrheit. Denn die Episode muß nicht blos aus
dem Gegenstande entspringen und ihn erklären, sie muß auch als Theil in
harmonischem Verhältniß zum Ganzen stehen.

Wir besitzen außer diesem Romane nur noch zwei, die der Besprechung
ebenso werth sind, als das Werk des Heliodor, und mit diesem zusammen
als Grundlage einer allgemeineren Betrachtung dieser Literatur dienen können.
Wir meinen zunächst den Roman des Achilles Tatius, der im 3. Jahr¬
hundert n. Chr. in Alerandria gelebt zu haben scheint. Er hat uns unter
dem Titel „Erotika" die Liebe deS Klitophon und der Leukippe beschrieben.
Klitophon in Tyrus lernt die Leukippe kennen, eine junge Byzantinerin, die
von ihrem Vater wegen einer von Seiten der Thracier drohenden Kriegs¬
gefahr nach Tyrus in Sicherheit gebracht ist. Klitophon gewinnt die Neigung
der Leukippe, und da er von seinem Vater zu einer andern Heirath gezwungen
werden soll, so wird das junge Paar bald über die Flucht einig. Auf der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/70>, abgerufen am 03.07.2024.