Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.mein Herz nicht vertheidigen. Niemals werde ich den Teccmberabend ver¬ Greuzbvtett. III. ->L67.
mein Herz nicht vertheidigen. Niemals werde ich den Teccmberabend ver¬ Greuzbvtett. III. ->L67.
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0441" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104642"/> <p xml:id="ID_1159" prev="#ID_1158" next="#ID_1160"> mein Herz nicht vertheidigen. Niemals werde ich den Teccmberabend ver¬<lb/> gessen, wo der Schleier, der meinen Unglauben vor mir selbst versteckte, zerriß.<lb/> Noch höre ich meinen aufgeregten Schritt in der engen Kammer, noch sehe<lb/> ich den halb verhüllten Mond, der von Zeit zu Zeit durch die gefrorenen<lb/> Fenster schien; eine Stunde der Nacht drängte die andere, ohne daß ich eS<lb/> merkte. Angstvoll verfolgte ich den Lauf meiner Gedanken, die immer tiefer<lb/> in den Schacht meines Gewissens eindrangen, eine Illusion nach der andern<lb/> zerstörten und mir seine verborgensten Windungen enthüllten. Vergebens<lb/> klammerte ich mich an die letzten Neste meines Glaubens, wie ein Schiff¬<lb/> brüchiger an das Wrack; vergebens rief ich ich mir zum letzten Male, erschreckt<lb/> von der Leere meiner Zukunft, meine Kindheit zurück, meine Familie, meine<lb/> Heimath, alles was mir theuer und heilig war. — Der Strom meines Ge¬<lb/> dankens war zu stark, Eltern, Familie, Erinnerungen, Glauben, ich mußte<lb/> alles aufgeben. Jetzt wußte ich, daß im Grund meiner Seele nichts fest stand;<lb/> der Augenblick war schrecklich, und als ich mich deS Morgens erschöpft aus<lb/> mein Bett warf, schien es mir, als ob mein erstes Leben mit seiner lachenden<lb/> Fülle erloschen und^ als ob hinter mir ein anderes sich öffnete, finster und ge¬<lb/> staltlos, wo ich fortan einsam leben sollte, einsam mit dem Gedanken, dem ich<lb/> hätte fluchen mögen. Die Tage, die auf diese Entdeckung folgten, waren die<lb/> traurigsten meines Lebens. Obgleich mein Verstand mit einigem Stolz sein<lb/> Werk betrachtete, konnte sich mein Gemüth nicht in einen Zustand finden, der<lb/> so wenig für die menschliche'Schwäche gemacht ist. Durch krampfhafte Anstren¬<lb/> gungen suchte co pas verlorene Ufer wieder zu gewinnen und einzelne Funken<lb/> in der Asche seines Glaubens erweckten in ihm neue Hoffnungen; aber sie erloschen<lb/> bald; denn die Ueberzeugung, die durch den Verstand gestürzt ist, richtet sich nicht<lb/> von selbst wieder auf." — Das ist nicht die Sprache eines Denkers von Profession,<lb/> aber, eines echten Menschen, der auch durch seine Irrthümer unser Theilnahme er¬<lb/> weckt. Das Werk der Zerstörung war nicht so weil gegangen, als er fürchtete; zum<lb/> alten Glauben konnte er nicht wieder zurückkehren, aber die aus demsel¬<lb/> ben hervorgegangenen Hoffnungen und Wünsche wirkten bestimmend auf sein<lb/> Nachdenken ein, und so gewissenhaft er in seiner Methode war, das Ziel,<lb/> »ach dem er strebte, lag bestimmt vor seinen Augen. Er suchte in der Philo¬<lb/> sophie, die noch im Werden begriffen war, die Lösung seiner angstvollen Zweifel;<lb/> er suchte sie nicht in den Büchern, die ihm wenig boten, sondern in der stetigen<lb/> Selbstbeobachtung. Er wollte den Zweck des Lebens kennen lernen, weil er<lb/> nur in dieser Erkenntniß Nuhe zu finden glaubte. Cousin hatte mit der Ent¬<lb/> schlossenheit eines Franzosen der Jugend seine Lehre von vornherein als die<lb/> nützlichste dargestellt und sie auf alle Richtungen deS sittlichen Geistes ange¬<lb/> wendet. Jouffroy, ängstlicher und gewissenhafter, beschränkte sein Studium<lb/> auf die Feststellung der Phänomene der Seele, da er nur hier klar zu seyen</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Greuzbvtett. III. ->L67.</fw><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0441]
mein Herz nicht vertheidigen. Niemals werde ich den Teccmberabend ver¬
gessen, wo der Schleier, der meinen Unglauben vor mir selbst versteckte, zerriß.
Noch höre ich meinen aufgeregten Schritt in der engen Kammer, noch sehe
ich den halb verhüllten Mond, der von Zeit zu Zeit durch die gefrorenen
Fenster schien; eine Stunde der Nacht drängte die andere, ohne daß ich eS
merkte. Angstvoll verfolgte ich den Lauf meiner Gedanken, die immer tiefer
in den Schacht meines Gewissens eindrangen, eine Illusion nach der andern
zerstörten und mir seine verborgensten Windungen enthüllten. Vergebens
klammerte ich mich an die letzten Neste meines Glaubens, wie ein Schiff¬
brüchiger an das Wrack; vergebens rief ich ich mir zum letzten Male, erschreckt
von der Leere meiner Zukunft, meine Kindheit zurück, meine Familie, meine
Heimath, alles was mir theuer und heilig war. — Der Strom meines Ge¬
dankens war zu stark, Eltern, Familie, Erinnerungen, Glauben, ich mußte
alles aufgeben. Jetzt wußte ich, daß im Grund meiner Seele nichts fest stand;
der Augenblick war schrecklich, und als ich mich deS Morgens erschöpft aus
mein Bett warf, schien es mir, als ob mein erstes Leben mit seiner lachenden
Fülle erloschen und^ als ob hinter mir ein anderes sich öffnete, finster und ge¬
staltlos, wo ich fortan einsam leben sollte, einsam mit dem Gedanken, dem ich
hätte fluchen mögen. Die Tage, die auf diese Entdeckung folgten, waren die
traurigsten meines Lebens. Obgleich mein Verstand mit einigem Stolz sein
Werk betrachtete, konnte sich mein Gemüth nicht in einen Zustand finden, der
so wenig für die menschliche'Schwäche gemacht ist. Durch krampfhafte Anstren¬
gungen suchte co pas verlorene Ufer wieder zu gewinnen und einzelne Funken
in der Asche seines Glaubens erweckten in ihm neue Hoffnungen; aber sie erloschen
bald; denn die Ueberzeugung, die durch den Verstand gestürzt ist, richtet sich nicht
von selbst wieder auf." — Das ist nicht die Sprache eines Denkers von Profession,
aber, eines echten Menschen, der auch durch seine Irrthümer unser Theilnahme er¬
weckt. Das Werk der Zerstörung war nicht so weil gegangen, als er fürchtete; zum
alten Glauben konnte er nicht wieder zurückkehren, aber die aus demsel¬
ben hervorgegangenen Hoffnungen und Wünsche wirkten bestimmend auf sein
Nachdenken ein, und so gewissenhaft er in seiner Methode war, das Ziel,
»ach dem er strebte, lag bestimmt vor seinen Augen. Er suchte in der Philo¬
sophie, die noch im Werden begriffen war, die Lösung seiner angstvollen Zweifel;
er suchte sie nicht in den Büchern, die ihm wenig boten, sondern in der stetigen
Selbstbeobachtung. Er wollte den Zweck des Lebens kennen lernen, weil er
nur in dieser Erkenntniß Nuhe zu finden glaubte. Cousin hatte mit der Ent¬
schlossenheit eines Franzosen der Jugend seine Lehre von vornherein als die
nützlichste dargestellt und sie auf alle Richtungen deS sittlichen Geistes ange¬
wendet. Jouffroy, ängstlicher und gewissenhafter, beschränkte sein Studium
auf die Feststellung der Phänomene der Seele, da er nur hier klar zu seyen
Greuzbvtett. III. ->L67.
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