Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Action; er hatte ihn mit Rücksicht auf die Wirkung sorgfaltig einstudirt, dann
belebte ihn die Theilnahme seiner Zuhörer, und er riß sie mit der Gewalt
parlamentarischer Beredtsamkeit fort, Jouffroy dagegen verschmähte alle Hilfs¬
mittel der Rede; er stand steif, ernst und kalt auf dem Katheder, eher zurück¬
weisend als aufmunternd. Es war, als ob er ohne Rücksicht auf die Zuhörer
sich in das Labyrinth seiner Gedanken vertiefte. Ehe er auf seinen eigentliche"
Gegenstand kam, suchte er sich genau über die Methode zu, orientiren. Er
classificirte das Material mit einer zuweilen ermüdenden Gründlichkeit, regte
zu Zweifeln an, die er bann von allen Seiten prüfte, und nicht selten geschah
es, daß er im Begriff abzuschließen auf eine neue Einwendung stieß und die
Untersuchung von neuem aufnahm. Vorsichtig in jeder Behauptung, uner¬
müdlich in dem Aufsuchen aller Elemente, die ihm dienen konnten, stellte er
seinen Schülern eine schwere Aufgabe; aber sie entdeckten hinter der kalten
Außenseite eine starke Glut, eine" Drang "ach Wahrheit, der vor keiner
Schwierigkeit zurückbebte; u"d so trocken seine logische" Deductioue" aussahen,
man wurde unaufhaltsam in ihr Netz verstrickt, man wurde von feiner eigenen
Wahrheitsliebe hingerissen. Im Gegensatz zu Cousin war Jouffroy eine inner¬
liche Natur, die weit von dem Ehrgeiz entfernt, in der Philosophie eine Revo¬
lution herbeizuführen, nnr die innere Unrnhe beschwichtigen wollte, um durch
klare Einsicht in die eigene Bestimmung eine Richtschnur für das Handeln zu ge¬
winnen. Er war in streng religiösen Umgebungen aufgewachsen, die freilich
in politischer Beziehung, wie alle Janseuisten der liberale" Schule angehörten,
und er trat als gläubiger Ehrist in das Leben. Aber von frühester Jugend
halte er eine entschiedene Abneigung, der hergebrachten Meinung zu folgen,
mit halbem Wissen eine Idee auf Treu und Glauben anzunehmen. Was er
nicht gründlich geprüft, mochte er lieber gar nicht wissen, und er zog es vor,
Fragen, die er nicht selbst zu Ende führen konnte, ganz bei Seite liegen zu
lassen. So kam der Tag, wo in seinen, Gemüth eine plötzliche Revolution
vor sich ging. In einem rührenden Fragment, welches erst nach seinem Tode
veröffentlicht wurde, hat er denselben geschildert. "Es kam der Tag, wo ich
am Herd dieses friedlichen Gebäudes, welches mich bei meiner Geburt auf¬
genommen hatte, und in dessen Schatten meine erste Jugend verflossen war,
den Wind des Zweifels vernahm, der von allen Seiten an die Mauern
schlug, und es in seinen Fundamenten erschütterte; meine Neugier hätte sich
nicht jenen mächtigen Einwürfen entziehen können, die aus den Arbeiten zweier
Jahrhunderte hervorgegangen, gleich dem Staub die Atmosphäre durchdrangen.
Vergebens empörte sich meine Kindheit mit ihren poetischen Eindrücken, meine
Jugend mit ihren religiösen Erinnerungen, das majestätische Aller dieses Glau¬
bens, den man mich gelehrt, vergebens empörte sich meine ganze Seele gegen
einen Unglauben, der sie in ihren Tiefen verwundete: mein Verstand konnte


Action; er hatte ihn mit Rücksicht auf die Wirkung sorgfaltig einstudirt, dann
belebte ihn die Theilnahme seiner Zuhörer, und er riß sie mit der Gewalt
parlamentarischer Beredtsamkeit fort, Jouffroy dagegen verschmähte alle Hilfs¬
mittel der Rede; er stand steif, ernst und kalt auf dem Katheder, eher zurück¬
weisend als aufmunternd. Es war, als ob er ohne Rücksicht auf die Zuhörer
sich in das Labyrinth seiner Gedanken vertiefte. Ehe er auf seinen eigentliche»
Gegenstand kam, suchte er sich genau über die Methode zu, orientiren. Er
classificirte das Material mit einer zuweilen ermüdenden Gründlichkeit, regte
zu Zweifeln an, die er bann von allen Seiten prüfte, und nicht selten geschah
es, daß er im Begriff abzuschließen auf eine neue Einwendung stieß und die
Untersuchung von neuem aufnahm. Vorsichtig in jeder Behauptung, uner¬
müdlich in dem Aufsuchen aller Elemente, die ihm dienen konnten, stellte er
seinen Schülern eine schwere Aufgabe; aber sie entdeckten hinter der kalten
Außenseite eine starke Glut, eine» Drang »ach Wahrheit, der vor keiner
Schwierigkeit zurückbebte; u»d so trocken seine logische» Deductioue» aussahen,
man wurde unaufhaltsam in ihr Netz verstrickt, man wurde von feiner eigenen
Wahrheitsliebe hingerissen. Im Gegensatz zu Cousin war Jouffroy eine inner¬
liche Natur, die weit von dem Ehrgeiz entfernt, in der Philosophie eine Revo¬
lution herbeizuführen, nnr die innere Unrnhe beschwichtigen wollte, um durch
klare Einsicht in die eigene Bestimmung eine Richtschnur für das Handeln zu ge¬
winnen. Er war in streng religiösen Umgebungen aufgewachsen, die freilich
in politischer Beziehung, wie alle Janseuisten der liberale» Schule angehörten,
und er trat als gläubiger Ehrist in das Leben. Aber von frühester Jugend
halte er eine entschiedene Abneigung, der hergebrachten Meinung zu folgen,
mit halbem Wissen eine Idee auf Treu und Glauben anzunehmen. Was er
nicht gründlich geprüft, mochte er lieber gar nicht wissen, und er zog es vor,
Fragen, die er nicht selbst zu Ende führen konnte, ganz bei Seite liegen zu
lassen. So kam der Tag, wo in seinen, Gemüth eine plötzliche Revolution
vor sich ging. In einem rührenden Fragment, welches erst nach seinem Tode
veröffentlicht wurde, hat er denselben geschildert. „Es kam der Tag, wo ich
am Herd dieses friedlichen Gebäudes, welches mich bei meiner Geburt auf¬
genommen hatte, und in dessen Schatten meine erste Jugend verflossen war,
den Wind des Zweifels vernahm, der von allen Seiten an die Mauern
schlug, und es in seinen Fundamenten erschütterte; meine Neugier hätte sich
nicht jenen mächtigen Einwürfen entziehen können, die aus den Arbeiten zweier
Jahrhunderte hervorgegangen, gleich dem Staub die Atmosphäre durchdrangen.
Vergebens empörte sich meine Kindheit mit ihren poetischen Eindrücken, meine
Jugend mit ihren religiösen Erinnerungen, das majestätische Aller dieses Glau¬
bens, den man mich gelehrt, vergebens empörte sich meine ganze Seele gegen
einen Unglauben, der sie in ihren Tiefen verwundete: mein Verstand konnte


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0440" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104641"/>
              <p xml:id="ID_1158" prev="#ID_1157" next="#ID_1159"> Action; er hatte ihn mit Rücksicht auf die Wirkung sorgfaltig einstudirt, dann<lb/>
belebte ihn die Theilnahme seiner Zuhörer, und er riß sie mit der Gewalt<lb/>
parlamentarischer Beredtsamkeit fort, Jouffroy dagegen verschmähte alle Hilfs¬<lb/>
mittel der Rede; er stand steif, ernst und kalt auf dem Katheder, eher zurück¬<lb/>
weisend als aufmunternd. Es war, als ob er ohne Rücksicht auf die Zuhörer<lb/>
sich in das Labyrinth seiner Gedanken vertiefte. Ehe er auf seinen eigentliche»<lb/>
Gegenstand kam, suchte er sich genau über die Methode zu, orientiren. Er<lb/>
classificirte das Material mit einer zuweilen ermüdenden Gründlichkeit, regte<lb/>
zu Zweifeln an, die er bann von allen Seiten prüfte, und nicht selten geschah<lb/>
es, daß er im Begriff abzuschließen auf eine neue Einwendung stieß und die<lb/>
Untersuchung von neuem aufnahm. Vorsichtig in jeder Behauptung, uner¬<lb/>
müdlich in dem Aufsuchen aller Elemente, die ihm dienen konnten, stellte er<lb/>
seinen Schülern eine schwere Aufgabe; aber sie entdeckten hinter der kalten<lb/>
Außenseite eine starke Glut, eine» Drang »ach Wahrheit, der vor keiner<lb/>
Schwierigkeit zurückbebte; u»d so trocken seine logische» Deductioue» aussahen,<lb/>
man wurde unaufhaltsam in ihr Netz verstrickt, man wurde von feiner eigenen<lb/>
Wahrheitsliebe hingerissen. Im Gegensatz zu Cousin war Jouffroy eine inner¬<lb/>
liche Natur, die weit von dem Ehrgeiz entfernt, in der Philosophie eine Revo¬<lb/>
lution herbeizuführen, nnr die innere Unrnhe beschwichtigen wollte, um durch<lb/>
klare Einsicht in die eigene Bestimmung eine Richtschnur für das Handeln zu ge¬<lb/>
winnen. Er war in streng religiösen Umgebungen aufgewachsen, die freilich<lb/>
in politischer Beziehung, wie alle Janseuisten der liberale» Schule angehörten,<lb/>
und er trat als gläubiger Ehrist in das Leben. Aber von frühester Jugend<lb/>
halte er eine entschiedene Abneigung, der hergebrachten Meinung zu folgen,<lb/>
mit halbem Wissen eine Idee auf Treu und Glauben anzunehmen. Was er<lb/>
nicht gründlich geprüft, mochte er lieber gar nicht wissen, und er zog es vor,<lb/>
Fragen, die er nicht selbst zu Ende führen konnte, ganz bei Seite liegen zu<lb/>
lassen. So kam der Tag, wo in seinen, Gemüth eine plötzliche Revolution<lb/>
vor sich ging. In einem rührenden Fragment, welches erst nach seinem Tode<lb/>
veröffentlicht wurde, hat er denselben geschildert. &#x201E;Es kam der Tag, wo ich<lb/>
am Herd dieses friedlichen Gebäudes, welches mich bei meiner Geburt auf¬<lb/>
genommen hatte, und in dessen Schatten meine erste Jugend verflossen war,<lb/>
den Wind des Zweifels vernahm, der von allen Seiten an die Mauern<lb/>
schlug, und es in seinen Fundamenten erschütterte; meine Neugier hätte sich<lb/>
nicht jenen mächtigen Einwürfen entziehen können, die aus den Arbeiten zweier<lb/>
Jahrhunderte hervorgegangen, gleich dem Staub die Atmosphäre durchdrangen.<lb/>
Vergebens empörte sich meine Kindheit mit ihren poetischen Eindrücken, meine<lb/>
Jugend mit ihren religiösen Erinnerungen, das majestätische Aller dieses Glau¬<lb/>
bens, den man mich gelehrt, vergebens empörte sich meine ganze Seele gegen<lb/>
einen Unglauben, der sie in ihren Tiefen verwundete: mein Verstand konnte</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0440] Action; er hatte ihn mit Rücksicht auf die Wirkung sorgfaltig einstudirt, dann belebte ihn die Theilnahme seiner Zuhörer, und er riß sie mit der Gewalt parlamentarischer Beredtsamkeit fort, Jouffroy dagegen verschmähte alle Hilfs¬ mittel der Rede; er stand steif, ernst und kalt auf dem Katheder, eher zurück¬ weisend als aufmunternd. Es war, als ob er ohne Rücksicht auf die Zuhörer sich in das Labyrinth seiner Gedanken vertiefte. Ehe er auf seinen eigentliche» Gegenstand kam, suchte er sich genau über die Methode zu, orientiren. Er classificirte das Material mit einer zuweilen ermüdenden Gründlichkeit, regte zu Zweifeln an, die er bann von allen Seiten prüfte, und nicht selten geschah es, daß er im Begriff abzuschließen auf eine neue Einwendung stieß und die Untersuchung von neuem aufnahm. Vorsichtig in jeder Behauptung, uner¬ müdlich in dem Aufsuchen aller Elemente, die ihm dienen konnten, stellte er seinen Schülern eine schwere Aufgabe; aber sie entdeckten hinter der kalten Außenseite eine starke Glut, eine» Drang »ach Wahrheit, der vor keiner Schwierigkeit zurückbebte; u»d so trocken seine logische» Deductioue» aussahen, man wurde unaufhaltsam in ihr Netz verstrickt, man wurde von feiner eigenen Wahrheitsliebe hingerissen. Im Gegensatz zu Cousin war Jouffroy eine inner¬ liche Natur, die weit von dem Ehrgeiz entfernt, in der Philosophie eine Revo¬ lution herbeizuführen, nnr die innere Unrnhe beschwichtigen wollte, um durch klare Einsicht in die eigene Bestimmung eine Richtschnur für das Handeln zu ge¬ winnen. Er war in streng religiösen Umgebungen aufgewachsen, die freilich in politischer Beziehung, wie alle Janseuisten der liberale» Schule angehörten, und er trat als gläubiger Ehrist in das Leben. Aber von frühester Jugend halte er eine entschiedene Abneigung, der hergebrachten Meinung zu folgen, mit halbem Wissen eine Idee auf Treu und Glauben anzunehmen. Was er nicht gründlich geprüft, mochte er lieber gar nicht wissen, und er zog es vor, Fragen, die er nicht selbst zu Ende führen konnte, ganz bei Seite liegen zu lassen. So kam der Tag, wo in seinen, Gemüth eine plötzliche Revolution vor sich ging. In einem rührenden Fragment, welches erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde, hat er denselben geschildert. „Es kam der Tag, wo ich am Herd dieses friedlichen Gebäudes, welches mich bei meiner Geburt auf¬ genommen hatte, und in dessen Schatten meine erste Jugend verflossen war, den Wind des Zweifels vernahm, der von allen Seiten an die Mauern schlug, und es in seinen Fundamenten erschütterte; meine Neugier hätte sich nicht jenen mächtigen Einwürfen entziehen können, die aus den Arbeiten zweier Jahrhunderte hervorgegangen, gleich dem Staub die Atmosphäre durchdrangen. Vergebens empörte sich meine Kindheit mit ihren poetischen Eindrücken, meine Jugend mit ihren religiösen Erinnerungen, das majestätische Aller dieses Glau¬ bens, den man mich gelehrt, vergebens empörte sich meine ganze Seele gegen einen Unglauben, der sie in ihren Tiefen verwundete: mein Verstand konnte

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/440
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/440>, abgerufen am 12.12.2024.