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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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von Fictionen und formellen Schranken auf die Wirklichkeit über, so ergibt eS
sich von selbst, daß der an Ort und Stelle befindliche oberste Beamte, zumal
bei den großen Entfernungen vom Heimathlande und den wichtigen Interessen,
welche wahrzunehmen sind, nur zu oft und grade bei den schwierigsten Ver¬
hältnissen auf sein eignes Urtheil angewiesen ist. Selbst wenn die einheimischen
Behörden dissentiren, so werden sie doch immer die möglichste Rücksicht auf
die Meinung des Generalgouvemeur als der' ausführenden Behörde nehmen.
Wie sehr übrigens ein Generalgouvemeur, sobald er Lust dazu hat, seinen
eignen Weg gehen kann, das bewies Lord Ellenborough, gegen den der Di-
rcctvrialhof und da dieser nicht ohne die Regierungsbehörde handeln kann,
zugleich diese zu dem außerordentlichen Mittel griffen, ihn plötzlich abzurufen.
Nicht immer dürfte indeß eine solche Maßregel möglich und angebracht sein.
Wir wollen hier noch erwähnen, daß dem Generalgouvemeur das Recht zu¬
steht, nichtchristlichen Fürsten und Staaten gegenüber Krieg zu erklären und
Frieden zu schließen, eine Befugniß, die in den Verhältnissen selbst liegt und
ausgeübt werden würde, selbst wenn keine Parlamentsacte sie gestattete.
Viele Leser werden sich vielleicht des ingrimmigen Kampfes erinnern, den bei
Gelegenheit des persischen und des chinesischen Krieges Urquhart und Kon¬
sorten gegen solche ohne Parlamentseinwilligung vorgenommene Acte der
hohen Politik eröffneten, als wenn im besten Falle die Macht der Verhält¬
nisse durch eigensinniges Festhalten am Buchstaben gebrochen werden könnte.

Das nun ist der Zustand der obern indischen Verwaltung, drei im We¬
sentlichen coordinirte Gewalten, und keine kräftig genug, die andere sich fac-
tisch unterzuordnen. So lange der ostindischen Gesellschaft große Feinde
gegenüberstanden, half man sich durch, und der Erfolg mußte entscheiden;
später aber verknöcherte sich das ganze Verwaltungssystem in eine Reihe von
Routinevorschriften. Eine solche Umbildung liegt überhaupt im englischen Staats-
gelriebe und nicht blos zufällig. In England, wo nicht militärisch von Oben
befohlen wird, sucht die Bureaukratie in Feststellung gewisser Regeln das
Gegengewicht gegen die selbstständige Stellung der einzelnen Beamten, natür¬
lich mit der steten Gefahr, daß bei einiger Umbildung der Verhältnisse das
Leben unter den Formen erstickt wird. Begreiflich trat ein solcher Mißzustand
mit verstärkter Kraft bei der so schlecht gegliederten ostindischen Verwaltung
ein. "Hat jemand in Ostindien einen Vorschlag zum Bessern zu macheu, so
theilt er denselben dem Präsidenten seiner Präsidentschaft mit, dieser dem Ge¬
neralgouvemeur, dieser wieder dem Rath, der sich Zeit nimmt, die Sache zu
"berlegen und dann darüber dem Directorialhof berichtet, der alle Papiere
durchliest und dann die Sache der Aufsichtsbehörde übermittelt." So hat
U'ngsth'in im Unterhause der jetzige Präsident der Aufsichtsbehörde selbst den
Weg geschildert, den jeder Vorschlag und wahrscheinlich auch jede Meiuungö-


von Fictionen und formellen Schranken auf die Wirklichkeit über, so ergibt eS
sich von selbst, daß der an Ort und Stelle befindliche oberste Beamte, zumal
bei den großen Entfernungen vom Heimathlande und den wichtigen Interessen,
welche wahrzunehmen sind, nur zu oft und grade bei den schwierigsten Ver¬
hältnissen auf sein eignes Urtheil angewiesen ist. Selbst wenn die einheimischen
Behörden dissentiren, so werden sie doch immer die möglichste Rücksicht auf
die Meinung des Generalgouvemeur als der' ausführenden Behörde nehmen.
Wie sehr übrigens ein Generalgouvemeur, sobald er Lust dazu hat, seinen
eignen Weg gehen kann, das bewies Lord Ellenborough, gegen den der Di-
rcctvrialhof und da dieser nicht ohne die Regierungsbehörde handeln kann,
zugleich diese zu dem außerordentlichen Mittel griffen, ihn plötzlich abzurufen.
Nicht immer dürfte indeß eine solche Maßregel möglich und angebracht sein.
Wir wollen hier noch erwähnen, daß dem Generalgouvemeur das Recht zu¬
steht, nichtchristlichen Fürsten und Staaten gegenüber Krieg zu erklären und
Frieden zu schließen, eine Befugniß, die in den Verhältnissen selbst liegt und
ausgeübt werden würde, selbst wenn keine Parlamentsacte sie gestattete.
Viele Leser werden sich vielleicht des ingrimmigen Kampfes erinnern, den bei
Gelegenheit des persischen und des chinesischen Krieges Urquhart und Kon¬
sorten gegen solche ohne Parlamentseinwilligung vorgenommene Acte der
hohen Politik eröffneten, als wenn im besten Falle die Macht der Verhält¬
nisse durch eigensinniges Festhalten am Buchstaben gebrochen werden könnte.

Das nun ist der Zustand der obern indischen Verwaltung, drei im We¬
sentlichen coordinirte Gewalten, und keine kräftig genug, die andere sich fac-
tisch unterzuordnen. So lange der ostindischen Gesellschaft große Feinde
gegenüberstanden, half man sich durch, und der Erfolg mußte entscheiden;
später aber verknöcherte sich das ganze Verwaltungssystem in eine Reihe von
Routinevorschriften. Eine solche Umbildung liegt überhaupt im englischen Staats-
gelriebe und nicht blos zufällig. In England, wo nicht militärisch von Oben
befohlen wird, sucht die Bureaukratie in Feststellung gewisser Regeln das
Gegengewicht gegen die selbstständige Stellung der einzelnen Beamten, natür¬
lich mit der steten Gefahr, daß bei einiger Umbildung der Verhältnisse das
Leben unter den Formen erstickt wird. Begreiflich trat ein solcher Mißzustand
mit verstärkter Kraft bei der so schlecht gegliederten ostindischen Verwaltung
ein. „Hat jemand in Ostindien einen Vorschlag zum Bessern zu macheu, so
theilt er denselben dem Präsidenten seiner Präsidentschaft mit, dieser dem Ge¬
neralgouvemeur, dieser wieder dem Rath, der sich Zeit nimmt, die Sache zu
»berlegen und dann darüber dem Directorialhof berichtet, der alle Papiere
durchliest und dann die Sache der Aufsichtsbehörde übermittelt." So hat
U'ngsth'in im Unterhause der jetzige Präsident der Aufsichtsbehörde selbst den
Weg geschildert, den jeder Vorschlag und wahrscheinlich auch jede Meiuungö-


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[0389] von Fictionen und formellen Schranken auf die Wirklichkeit über, so ergibt eS sich von selbst, daß der an Ort und Stelle befindliche oberste Beamte, zumal bei den großen Entfernungen vom Heimathlande und den wichtigen Interessen, welche wahrzunehmen sind, nur zu oft und grade bei den schwierigsten Ver¬ hältnissen auf sein eignes Urtheil angewiesen ist. Selbst wenn die einheimischen Behörden dissentiren, so werden sie doch immer die möglichste Rücksicht auf die Meinung des Generalgouvemeur als der' ausführenden Behörde nehmen. Wie sehr übrigens ein Generalgouvemeur, sobald er Lust dazu hat, seinen eignen Weg gehen kann, das bewies Lord Ellenborough, gegen den der Di- rcctvrialhof und da dieser nicht ohne die Regierungsbehörde handeln kann, zugleich diese zu dem außerordentlichen Mittel griffen, ihn plötzlich abzurufen. Nicht immer dürfte indeß eine solche Maßregel möglich und angebracht sein. Wir wollen hier noch erwähnen, daß dem Generalgouvemeur das Recht zu¬ steht, nichtchristlichen Fürsten und Staaten gegenüber Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, eine Befugniß, die in den Verhältnissen selbst liegt und ausgeübt werden würde, selbst wenn keine Parlamentsacte sie gestattete. Viele Leser werden sich vielleicht des ingrimmigen Kampfes erinnern, den bei Gelegenheit des persischen und des chinesischen Krieges Urquhart und Kon¬ sorten gegen solche ohne Parlamentseinwilligung vorgenommene Acte der hohen Politik eröffneten, als wenn im besten Falle die Macht der Verhält¬ nisse durch eigensinniges Festhalten am Buchstaben gebrochen werden könnte. Das nun ist der Zustand der obern indischen Verwaltung, drei im We¬ sentlichen coordinirte Gewalten, und keine kräftig genug, die andere sich fac- tisch unterzuordnen. So lange der ostindischen Gesellschaft große Feinde gegenüberstanden, half man sich durch, und der Erfolg mußte entscheiden; später aber verknöcherte sich das ganze Verwaltungssystem in eine Reihe von Routinevorschriften. Eine solche Umbildung liegt überhaupt im englischen Staats- gelriebe und nicht blos zufällig. In England, wo nicht militärisch von Oben befohlen wird, sucht die Bureaukratie in Feststellung gewisser Regeln das Gegengewicht gegen die selbstständige Stellung der einzelnen Beamten, natür¬ lich mit der steten Gefahr, daß bei einiger Umbildung der Verhältnisse das Leben unter den Formen erstickt wird. Begreiflich trat ein solcher Mißzustand mit verstärkter Kraft bei der so schlecht gegliederten ostindischen Verwaltung ein. „Hat jemand in Ostindien einen Vorschlag zum Bessern zu macheu, so theilt er denselben dem Präsidenten seiner Präsidentschaft mit, dieser dem Ge¬ neralgouvemeur, dieser wieder dem Rath, der sich Zeit nimmt, die Sache zu »berlegen und dann darüber dem Directorialhof berichtet, der alle Papiere durchliest und dann die Sache der Aufsichtsbehörde übermittelt." So hat U'ngsth'in im Unterhause der jetzige Präsident der Aufsichtsbehörde selbst den Weg geschildert, den jeder Vorschlag und wahrscheinlich auch jede Meiuungö-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/389>, abgerufen am 24.08.2024.