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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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gewesen, von ihnen zu verlangen, so ohne alle Vergütung ihr "Hab und Gut"
aus purer Menschenliebe hinzugeben.

Leibeigen oder frei müssen also die Zigeuner nach wie vor Abgaben zahlen
und nebenbei ihre gewöhnlich sehr zahlreiche Nachkommenschaft ernähren. Zu
einer stabilen Beschäftigung sind sie nicht zu bringen; halb oder ganz berauscht
tagelang an der Sonne zu liegen ist ihr höchster Genuß: -- wo sollen also
Kopfsteuer und Lebensunterhalt herkommen? Da wählt also der Zigeuner ir¬
gend einen Erwerbszweig als Aushängeschild, um seine Faulheit zu verschleiern;
er heißt Schmied, Schlosser, Schuster, Musikant oder Bärenführer, betreibt
sein Handwerk hin und wieder am Tage, und geht dann die Nacht auf Raub
aus. Unglaubliche Strecken legt er von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang
zurück, um ein Pferd zu stehlen; nichts ist ihm zu gering; er nimmt alles, was
ihm unter die Hand fällt, und zwar mit einer nicht gewöhnlichen Geschjck-
lichkeit, über die man sich übrigens nicht wundern darf, wenn man bedenkt,
daß schon ganz kleine Kinder zum Stehlen angehalten werden und sich nicht
selten auf die Industrie legen, Schweinen einen Brei von Kukuruzmehl und
Branntwein einzugeben, was die Thiere so betäubt, daß sie sich ohne ihr
weithallendes Geschrei wegschleppen lassen. Auch unscheinbare Equipagen
greisen die Zigeuner auf ihren nächtlichen Ausflügen an; wo sie eine Feuer¬
waffe oder hartnäckigen Widerstand wittern, bleiben sie fern, da durch die
Verwundung eines einzigen von den Raubgefährten leicht auf die Spur zu
kommen ist.

Was die Negierung mit diesen Leuten anfangen soll, um sie zu einem
geregelten Leben zu zwingen, ist schwer zu entscheiden. ' Bis jetzt hat sie sich
auf Prügel, und zwar sehr ansehnliche Prügel beschränkt, die aber durchaus
nichts halfen, selbst wenn das mehrfach zusammengeschlagene Tuch, das der De¬
linquent sür alle Fälle auf dem der Züchtigung am meisten ausgesetzten Theile deS
Körpers unter dem Beinkleide trägt -- entdeckt und entfernt wurde. Es grenzt
ans Fabelhafte, was ein Zigeuner an Schlägen aushalten kann, und weist man ihm
^n Haus an zu ständiger Wohnung, so geht er durch mit Weib und Kind, weil,
wie er behauptet, unter einem Dach es vor Flöhen nicht auszuhalten ist! --
Wenn man bedenkt, daß eS viele Tausende solcher unbändigen Familien im
Lande gibt, so wird man gestehen, daß die Aufgabe der Regierung keine
l"este ist.

Zur zweiten Classe der Zigeuner gehören die sogenannten Linguraren.
Größtentheils dunkelbraun wie ihre Kollegen unter den Zelten, sind sie bei
weitem civilisationssähiger, und fangen an sich sogar recht nützlich zu machen.
In Häusern mögen auch sie nicht wohnen, aber ihre Erdhütten vertauschen
sie nie mit dem Zelte deS Nomaden; sie sind in Dörfern ansässig und ernähren
sich redlich mit der Sichel und der Hacke, und nachdem sie den Sommer


gewesen, von ihnen zu verlangen, so ohne alle Vergütung ihr „Hab und Gut"
aus purer Menschenliebe hinzugeben.

Leibeigen oder frei müssen also die Zigeuner nach wie vor Abgaben zahlen
und nebenbei ihre gewöhnlich sehr zahlreiche Nachkommenschaft ernähren. Zu
einer stabilen Beschäftigung sind sie nicht zu bringen; halb oder ganz berauscht
tagelang an der Sonne zu liegen ist ihr höchster Genuß: — wo sollen also
Kopfsteuer und Lebensunterhalt herkommen? Da wählt also der Zigeuner ir¬
gend einen Erwerbszweig als Aushängeschild, um seine Faulheit zu verschleiern;
er heißt Schmied, Schlosser, Schuster, Musikant oder Bärenführer, betreibt
sein Handwerk hin und wieder am Tage, und geht dann die Nacht auf Raub
aus. Unglaubliche Strecken legt er von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang
zurück, um ein Pferd zu stehlen; nichts ist ihm zu gering; er nimmt alles, was
ihm unter die Hand fällt, und zwar mit einer nicht gewöhnlichen Geschjck-
lichkeit, über die man sich übrigens nicht wundern darf, wenn man bedenkt,
daß schon ganz kleine Kinder zum Stehlen angehalten werden und sich nicht
selten auf die Industrie legen, Schweinen einen Brei von Kukuruzmehl und
Branntwein einzugeben, was die Thiere so betäubt, daß sie sich ohne ihr
weithallendes Geschrei wegschleppen lassen. Auch unscheinbare Equipagen
greisen die Zigeuner auf ihren nächtlichen Ausflügen an; wo sie eine Feuer¬
waffe oder hartnäckigen Widerstand wittern, bleiben sie fern, da durch die
Verwundung eines einzigen von den Raubgefährten leicht auf die Spur zu
kommen ist.

Was die Negierung mit diesen Leuten anfangen soll, um sie zu einem
geregelten Leben zu zwingen, ist schwer zu entscheiden. ' Bis jetzt hat sie sich
auf Prügel, und zwar sehr ansehnliche Prügel beschränkt, die aber durchaus
nichts halfen, selbst wenn das mehrfach zusammengeschlagene Tuch, das der De¬
linquent sür alle Fälle auf dem der Züchtigung am meisten ausgesetzten Theile deS
Körpers unter dem Beinkleide trägt — entdeckt und entfernt wurde. Es grenzt
ans Fabelhafte, was ein Zigeuner an Schlägen aushalten kann, und weist man ihm
^n Haus an zu ständiger Wohnung, so geht er durch mit Weib und Kind, weil,
wie er behauptet, unter einem Dach es vor Flöhen nicht auszuhalten ist! —
Wenn man bedenkt, daß eS viele Tausende solcher unbändigen Familien im
Lande gibt, so wird man gestehen, daß die Aufgabe der Regierung keine
l«este ist.

Zur zweiten Classe der Zigeuner gehören die sogenannten Linguraren.
Größtentheils dunkelbraun wie ihre Kollegen unter den Zelten, sind sie bei
weitem civilisationssähiger, und fangen an sich sogar recht nützlich zu machen.
In Häusern mögen auch sie nicht wohnen, aber ihre Erdhütten vertauschen
sie nie mit dem Zelte deS Nomaden; sie sind in Dörfern ansässig und ernähren
sich redlich mit der Sichel und der Hacke, und nachdem sie den Sommer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/37>, abgerufen am 01.10.2024.