Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den Unglauben zu Boden schlug.*) Die echte Handschrift zeigte ihn als den
Suchenden und Zweifelnden, der trotz seiner qualvollen Anstrengungen sich ver¬
gebens der Angriffe seines Verstandes zu erwehren suchte und in der völligen
Verzweiflung, auf diesem Wege zu Gott zu dringen, endlich in einer sonder¬
baren Wendung seinen Trost fand: der Glaube kann vielleicht die Seele
retten, im Unglauben geht sie jedenfalls unter; da nun von einem begründeten
Wissen nicht die Rede ist, so treibt uns die Weisheit, den ersten zu wählen,
um auf alle Fälle sicher zu gehn. -- Aus dieser gewiß weder philosophischen
noch religiösen Stimmung begreift man den Haß des scharfen Logikers gegen
die Philosophie, die sein Leben nur verwirrt hat, ohne ihm einen Halt zu
geben. ES tritt uns in Pascal eine mächtige und stolze Seele entgegen, die
ober krankhaft und unglücklich war und im absoluten Zweifel eine Nahrung
für ihre Melancholie suchte. Cousin hat nicht Unrecht, nach diesem großen
Schriftsteller das Bild deS Mystikers zu entwerfen, den die Philosophie aus
allen Kräften bekämpfen muß (-1863.) "Es ist um so wichtiger, offen mit der
Mystik zu brechen, je näher sie uns berührt, je leichter sie durch einen Anschein
von Größe feingestimmte Seelen verlockt, namentlich in einer Zeit der Müdig¬
keit, wo nach einer Reihe grausamer Enttäuschungen die menschliche Vernunft
den Glauben an ihre eigne Macht verloren hat, und um den unauslöschlichen
Durst nach Gott zu stillen, sich blind und angstvoll nach allen Seiten wendet,
und nach dem Neuen, dem Chimärischen, dem Absurden greift, um das Un¬
mögliche zu erreichen. Nicht ungestraft empört man sich gegen die Vernunft;
sie züchtigt unsere falsche Weisheit und überläßt sie den ärgsten Ausschweifungen.
Wenn man willkürlich seinen Glauben in die Schranken der unmittelbaren
Wahrnehmung einengt, so erstickt man in diesen Schranken und greift zum
Wunder, um sich daraus zu befreien. Man wagte nicht auf die Autorität der
Natürlichen Vernunft daS Dasein Gottes zu gründen, und verlangt nach einer
unmittelbaren Mittheilung, in der Art, wie man mit den Gegenständen der
sinnlichen Wahrnehmung umgeht. Wenn eS eine unglaubliche Schwäche der
Vernunft ist, so an sich selbst zu zweifeln, ist es eine ausschweifende Verwegen¬
heit, ,'n der Verzweiflung des Denkens von einer unmittelbaren Berührung
>>"'t Gott zu träumen. Dieser verzweifelte und vermessene Traum ist die
Mystik, in der sich der Skepticismus mit dem Aberglauben vereint. Sie
wendet sich ein das Gefühl und verwirrt es, indem sie ihm schmeichelt; aber
statt den Menschen zu Gott zu erheben, drückt ihn die Ertase vielmehr unter
die Menschheit herab, indem sie daS Denken auslöscht. -- Co ist das unent-



*) Die akademische Preisaufgabe einer Lobrede Pascals lüften 18i2 zwei junge Schrift¬
steller. Fangercs und Bordas Dcmonlin. Gleichzeitig erschien der 2. Band von See. Bcuvcs
Port Royal und Cousins Rapport s, I's,eaäsmiö für Is> us--"ssits ä'uns nouvells sdition <Ich
?"nsve8. Ein sehr wichtiger Nachtrag war P. Verins vsrits sur los ^.mault, eowpletes
" I'alas 6s Isur oorrssponMueo inodito i8t7.
44*

den Unglauben zu Boden schlug.*) Die echte Handschrift zeigte ihn als den
Suchenden und Zweifelnden, der trotz seiner qualvollen Anstrengungen sich ver¬
gebens der Angriffe seines Verstandes zu erwehren suchte und in der völligen
Verzweiflung, auf diesem Wege zu Gott zu dringen, endlich in einer sonder¬
baren Wendung seinen Trost fand: der Glaube kann vielleicht die Seele
retten, im Unglauben geht sie jedenfalls unter; da nun von einem begründeten
Wissen nicht die Rede ist, so treibt uns die Weisheit, den ersten zu wählen,
um auf alle Fälle sicher zu gehn. — Aus dieser gewiß weder philosophischen
noch religiösen Stimmung begreift man den Haß des scharfen Logikers gegen
die Philosophie, die sein Leben nur verwirrt hat, ohne ihm einen Halt zu
geben. ES tritt uns in Pascal eine mächtige und stolze Seele entgegen, die
ober krankhaft und unglücklich war und im absoluten Zweifel eine Nahrung
für ihre Melancholie suchte. Cousin hat nicht Unrecht, nach diesem großen
Schriftsteller das Bild deS Mystikers zu entwerfen, den die Philosophie aus
allen Kräften bekämpfen muß (-1863.) „Es ist um so wichtiger, offen mit der
Mystik zu brechen, je näher sie uns berührt, je leichter sie durch einen Anschein
von Größe feingestimmte Seelen verlockt, namentlich in einer Zeit der Müdig¬
keit, wo nach einer Reihe grausamer Enttäuschungen die menschliche Vernunft
den Glauben an ihre eigne Macht verloren hat, und um den unauslöschlichen
Durst nach Gott zu stillen, sich blind und angstvoll nach allen Seiten wendet,
und nach dem Neuen, dem Chimärischen, dem Absurden greift, um das Un¬
mögliche zu erreichen. Nicht ungestraft empört man sich gegen die Vernunft;
sie züchtigt unsere falsche Weisheit und überläßt sie den ärgsten Ausschweifungen.
Wenn man willkürlich seinen Glauben in die Schranken der unmittelbaren
Wahrnehmung einengt, so erstickt man in diesen Schranken und greift zum
Wunder, um sich daraus zu befreien. Man wagte nicht auf die Autorität der
Natürlichen Vernunft daS Dasein Gottes zu gründen, und verlangt nach einer
unmittelbaren Mittheilung, in der Art, wie man mit den Gegenständen der
sinnlichen Wahrnehmung umgeht. Wenn eS eine unglaubliche Schwäche der
Vernunft ist, so an sich selbst zu zweifeln, ist es eine ausschweifende Verwegen¬
heit, ,'n der Verzweiflung des Denkens von einer unmittelbaren Berührung
>>"'t Gott zu träumen. Dieser verzweifelte und vermessene Traum ist die
Mystik, in der sich der Skepticismus mit dem Aberglauben vereint. Sie
wendet sich ein das Gefühl und verwirrt es, indem sie ihm schmeichelt; aber
statt den Menschen zu Gott zu erheben, drückt ihn die Ertase vielmehr unter
die Menschheit herab, indem sie daS Denken auslöscht. — Co ist das unent-



*) Die akademische Preisaufgabe einer Lobrede Pascals lüften 18i2 zwei junge Schrift¬
steller. Fangercs und Bordas Dcmonlin. Gleichzeitig erschien der 2. Band von See. Bcuvcs
Port Royal und Cousins Rapport s, I's,eaäsmiö für Is> us--«ssits ä'uns nouvells sdition <Ich
?«nsve8. Ein sehr wichtiger Nachtrag war P. Verins vsrits sur los ^.mault, eowpletes
» I'alas 6s Isur oorrssponMueo inodito i8t7.
44*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0355" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104556"/>
              <p xml:id="ID_912" prev="#ID_911" next="#ID_913"> den Unglauben zu Boden schlug.*) Die echte Handschrift zeigte ihn als den<lb/>
Suchenden und Zweifelnden, der trotz seiner qualvollen Anstrengungen sich ver¬<lb/>
gebens der Angriffe seines Verstandes zu erwehren suchte und in der völligen<lb/>
Verzweiflung, auf diesem Wege zu Gott zu dringen, endlich in einer sonder¬<lb/>
baren Wendung seinen Trost fand: der Glaube kann vielleicht die Seele<lb/>
retten, im Unglauben geht sie jedenfalls unter; da nun von einem begründeten<lb/>
Wissen nicht die Rede ist, so treibt uns die Weisheit, den ersten zu wählen,<lb/>
um auf alle Fälle sicher zu gehn. &#x2014; Aus dieser gewiß weder philosophischen<lb/>
noch religiösen Stimmung begreift man den Haß des scharfen Logikers gegen<lb/>
die Philosophie, die sein Leben nur verwirrt hat, ohne ihm einen Halt zu<lb/>
geben. ES tritt uns in Pascal eine mächtige und stolze Seele entgegen, die<lb/>
ober krankhaft und unglücklich war und im absoluten Zweifel eine Nahrung<lb/>
für ihre Melancholie suchte. Cousin hat nicht Unrecht, nach diesem großen<lb/>
Schriftsteller das Bild deS Mystikers zu entwerfen, den die Philosophie aus<lb/>
allen Kräften bekämpfen muß (-1863.) &#x201E;Es ist um so wichtiger, offen mit der<lb/>
Mystik zu brechen, je näher sie uns berührt, je leichter sie durch einen Anschein<lb/>
von Größe feingestimmte Seelen verlockt, namentlich in einer Zeit der Müdig¬<lb/>
keit, wo nach einer Reihe grausamer Enttäuschungen die menschliche Vernunft<lb/>
den Glauben an ihre eigne Macht verloren hat, und um den unauslöschlichen<lb/>
Durst nach Gott zu stillen, sich blind und angstvoll nach allen Seiten wendet,<lb/>
und nach dem Neuen, dem Chimärischen, dem Absurden greift, um das Un¬<lb/>
mögliche zu erreichen. Nicht ungestraft empört man sich gegen die Vernunft;<lb/>
sie züchtigt unsere falsche Weisheit und überläßt sie den ärgsten Ausschweifungen.<lb/>
Wenn man willkürlich seinen Glauben in die Schranken der unmittelbaren<lb/>
Wahrnehmung einengt, so erstickt man in diesen Schranken und greift zum<lb/>
Wunder, um sich daraus zu befreien. Man wagte nicht auf die Autorität der<lb/>
Natürlichen Vernunft daS Dasein Gottes zu gründen, und verlangt nach einer<lb/>
unmittelbaren Mittheilung, in der Art, wie man mit den Gegenständen der<lb/>
sinnlichen Wahrnehmung umgeht. Wenn eS eine unglaubliche Schwäche der<lb/>
Vernunft ist, so an sich selbst zu zweifeln, ist es eine ausschweifende Verwegen¬<lb/>
heit, ,'n der Verzweiflung des Denkens von einer unmittelbaren Berührung<lb/>
&gt;&gt;"'t Gott zu träumen. Dieser verzweifelte und vermessene Traum ist die<lb/>
Mystik, in der sich der Skepticismus mit dem Aberglauben vereint. Sie<lb/>
wendet sich ein das Gefühl und verwirrt es, indem sie ihm schmeichelt; aber<lb/>
statt den Menschen zu Gott zu erheben, drückt ihn die Ertase vielmehr unter<lb/>
die Menschheit herab, indem sie daS Denken auslöscht. &#x2014; Co ist das unent-</p><lb/>
              <note xml:id="FID_28" place="foot"> *) Die akademische Preisaufgabe einer Lobrede Pascals lüften 18i2 zwei junge Schrift¬<lb/>
steller. Fangercs und Bordas Dcmonlin. Gleichzeitig erschien der 2. Band von See. Bcuvcs<lb/>
Port Royal und Cousins Rapport s, I's,eaäsmiö für Is&gt; us--«ssits ä'uns nouvells sdition &lt;Ich<lb/>
?«nsve8. Ein sehr wichtiger Nachtrag war P. Verins vsrits sur los ^.mault, eowpletes<lb/>
» I'alas 6s Isur oorrssponMueo inodito i8t7.</note><lb/>
              <fw type="sig" place="bottom"> 44*</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0355] den Unglauben zu Boden schlug.*) Die echte Handschrift zeigte ihn als den Suchenden und Zweifelnden, der trotz seiner qualvollen Anstrengungen sich ver¬ gebens der Angriffe seines Verstandes zu erwehren suchte und in der völligen Verzweiflung, auf diesem Wege zu Gott zu dringen, endlich in einer sonder¬ baren Wendung seinen Trost fand: der Glaube kann vielleicht die Seele retten, im Unglauben geht sie jedenfalls unter; da nun von einem begründeten Wissen nicht die Rede ist, so treibt uns die Weisheit, den ersten zu wählen, um auf alle Fälle sicher zu gehn. — Aus dieser gewiß weder philosophischen noch religiösen Stimmung begreift man den Haß des scharfen Logikers gegen die Philosophie, die sein Leben nur verwirrt hat, ohne ihm einen Halt zu geben. ES tritt uns in Pascal eine mächtige und stolze Seele entgegen, die ober krankhaft und unglücklich war und im absoluten Zweifel eine Nahrung für ihre Melancholie suchte. Cousin hat nicht Unrecht, nach diesem großen Schriftsteller das Bild deS Mystikers zu entwerfen, den die Philosophie aus allen Kräften bekämpfen muß (-1863.) „Es ist um so wichtiger, offen mit der Mystik zu brechen, je näher sie uns berührt, je leichter sie durch einen Anschein von Größe feingestimmte Seelen verlockt, namentlich in einer Zeit der Müdig¬ keit, wo nach einer Reihe grausamer Enttäuschungen die menschliche Vernunft den Glauben an ihre eigne Macht verloren hat, und um den unauslöschlichen Durst nach Gott zu stillen, sich blind und angstvoll nach allen Seiten wendet, und nach dem Neuen, dem Chimärischen, dem Absurden greift, um das Un¬ mögliche zu erreichen. Nicht ungestraft empört man sich gegen die Vernunft; sie züchtigt unsere falsche Weisheit und überläßt sie den ärgsten Ausschweifungen. Wenn man willkürlich seinen Glauben in die Schranken der unmittelbaren Wahrnehmung einengt, so erstickt man in diesen Schranken und greift zum Wunder, um sich daraus zu befreien. Man wagte nicht auf die Autorität der Natürlichen Vernunft daS Dasein Gottes zu gründen, und verlangt nach einer unmittelbaren Mittheilung, in der Art, wie man mit den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung umgeht. Wenn eS eine unglaubliche Schwäche der Vernunft ist, so an sich selbst zu zweifeln, ist es eine ausschweifende Verwegen¬ heit, ,'n der Verzweiflung des Denkens von einer unmittelbaren Berührung >>"'t Gott zu träumen. Dieser verzweifelte und vermessene Traum ist die Mystik, in der sich der Skepticismus mit dem Aberglauben vereint. Sie wendet sich ein das Gefühl und verwirrt es, indem sie ihm schmeichelt; aber statt den Menschen zu Gott zu erheben, drückt ihn die Ertase vielmehr unter die Menschheit herab, indem sie daS Denken auslöscht. — Co ist das unent- *) Die akademische Preisaufgabe einer Lobrede Pascals lüften 18i2 zwei junge Schrift¬ steller. Fangercs und Bordas Dcmonlin. Gleichzeitig erschien der 2. Band von See. Bcuvcs Port Royal und Cousins Rapport s, I's,eaäsmiö für Is> us--«ssits ä'uns nouvells sdition <Ich ?«nsve8. Ein sehr wichtiger Nachtrag war P. Verins vsrits sur los ^.mault, eowpletes » I'alas 6s Isur oorrssponMueo inodito i8t7. 44*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/355
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/355>, abgerufen am 24.08.2024.