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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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sind von zweifelhaftem Werth. DaS unruhige 16. Jahrhundert heilte seinen
Nachfolgern ein bestimmtes Maß und Ideal gegeben, indem eS das classische
Alterthum entdeckte." Einem Franzosen wird man es nicht verargen, wenn
er zur Charakteristik eines Zeitalters sein eigenes Land ins Auge faßt. Aber
auch in Bezug auf Frankreich hat er das sogenannte große Jahrhundert in zu
glänzenden Farben gemalt. Freilich erscheint eS ihm nicht mehr, wie den alten
Klassikern, als das absolute Ideal, dem nur noch das Zeitalter des Augustus
ebenbürtig war, während dazwischen nur unfruchtbare Uebergangsperioden
liegen. Pie Literaturgeschichte hatte bereits zu große Fortschritte gemacht, um
noch ein solches Mißverständniß zuzulassen. Aber Cousin sieht zu wenig die
Schattenseiten. DaS 17. Jahrhundert zeichnete sich durch eine Gabe aus, die
seinem eignen Talent am nächsten stand: die Gabe der Beredtsamkeit, und in
der Bewunderung dieser Leistungen übersieht Cousin das falsche Pathos in
Prosa und Poesie, in Scherz und Ernst, er übersieht den todten Mechanismus
eines Hoflebens, das die Freiheit und Ehre aller Classen unterdrückte, und die
Unvollkommenheiten der Verwaltung, die kaum einer Verbesserung fähig
waren. Indem er immer tiefer in dieses Jahrhundert eindrang, rechtfertigt er
zuletzt alles, das Ceremoniell Ludwigs XIV. und den liederlichen Adel der
Fronde. Er rechtfertigte sie mit phantastischen Anschauungen und in einer
pedantischen Form. Die Eigenschaft des wahren Historikers, daß die Begeben¬
heiten ihm in sinnlicher Klarheit mächtig sich aufdrängen, besitzt er nicht. Wo
er nicht Antiquar ist, wird er Panegyriker. Es war von dem größten Interesse
für die neue philosophische Schule, die in ihren Grundgedanken sich an den
alten Jansenismus anschloß, daS innere Leben dieser merkwürdigen Sekte zu
untersuchen. Als Philolog hat Cousin sehr Großes dafür geleistet, namentlich
indem er das ursprüngliche Manuscript der Pensves von Pascal entzifferte,
welches von seinen Freunden aus religiösen Rücksichten modificirt war, und
welches uns Pascal in einer ganz neuen Form zeigt, als den Skeptiker mit .
gigantischer Kraft, der angstvoll nach dem Glauben ringt. In der Abhandlung
über den Skepticismus Pascals (18i-i bis 18i3) sind die Beziehungen der
Jansenisten zu Descartes und Spinoza vortrefflich analysirt. Cousin zeigt,
daß sie mit ihrer Gnadentheorie nothwendig die Philosophie bekämpfen mußten,
und daß nach ihnen Philosophiren so viel hieß, als die Philosophie verachten-
Er schildert mit seinem Eingehn die Seelenkcimpse, die in ihrer Mitte statt¬
fanden, alö der Cartesianismus eingeführt werden sollte. Gegen Pascal ist
er insofern ungerecht, als er auf seine mathematischen Stutsien zu wenig Ge¬
wicht legt, aber sehr scharfsinnig entwickelt er die Verwandtschaft mit Laroche
Foucault in dem Unglauben an alle allgemeine Ideen, in der Zurückführung
aller geistigen Motive aus Selbstsucht und Eitelkeit. Die kirchliche Partei hatte
bis jetzt in ihm den Gläubigen verehrt, der von fester Ueberzeugung getragen


sind von zweifelhaftem Werth. DaS unruhige 16. Jahrhundert heilte seinen
Nachfolgern ein bestimmtes Maß und Ideal gegeben, indem eS das classische
Alterthum entdeckte." Einem Franzosen wird man es nicht verargen, wenn
er zur Charakteristik eines Zeitalters sein eigenes Land ins Auge faßt. Aber
auch in Bezug auf Frankreich hat er das sogenannte große Jahrhundert in zu
glänzenden Farben gemalt. Freilich erscheint eS ihm nicht mehr, wie den alten
Klassikern, als das absolute Ideal, dem nur noch das Zeitalter des Augustus
ebenbürtig war, während dazwischen nur unfruchtbare Uebergangsperioden
liegen. Pie Literaturgeschichte hatte bereits zu große Fortschritte gemacht, um
noch ein solches Mißverständniß zuzulassen. Aber Cousin sieht zu wenig die
Schattenseiten. DaS 17. Jahrhundert zeichnete sich durch eine Gabe aus, die
seinem eignen Talent am nächsten stand: die Gabe der Beredtsamkeit, und in
der Bewunderung dieser Leistungen übersieht Cousin das falsche Pathos in
Prosa und Poesie, in Scherz und Ernst, er übersieht den todten Mechanismus
eines Hoflebens, das die Freiheit und Ehre aller Classen unterdrückte, und die
Unvollkommenheiten der Verwaltung, die kaum einer Verbesserung fähig
waren. Indem er immer tiefer in dieses Jahrhundert eindrang, rechtfertigt er
zuletzt alles, das Ceremoniell Ludwigs XIV. und den liederlichen Adel der
Fronde. Er rechtfertigte sie mit phantastischen Anschauungen und in einer
pedantischen Form. Die Eigenschaft des wahren Historikers, daß die Begeben¬
heiten ihm in sinnlicher Klarheit mächtig sich aufdrängen, besitzt er nicht. Wo
er nicht Antiquar ist, wird er Panegyriker. Es war von dem größten Interesse
für die neue philosophische Schule, die in ihren Grundgedanken sich an den
alten Jansenismus anschloß, daS innere Leben dieser merkwürdigen Sekte zu
untersuchen. Als Philolog hat Cousin sehr Großes dafür geleistet, namentlich
indem er das ursprüngliche Manuscript der Pensves von Pascal entzifferte,
welches von seinen Freunden aus religiösen Rücksichten modificirt war, und
welches uns Pascal in einer ganz neuen Form zeigt, als den Skeptiker mit .
gigantischer Kraft, der angstvoll nach dem Glauben ringt. In der Abhandlung
über den Skepticismus Pascals (18i-i bis 18i3) sind die Beziehungen der
Jansenisten zu Descartes und Spinoza vortrefflich analysirt. Cousin zeigt,
daß sie mit ihrer Gnadentheorie nothwendig die Philosophie bekämpfen mußten,
und daß nach ihnen Philosophiren so viel hieß, als die Philosophie verachten-
Er schildert mit seinem Eingehn die Seelenkcimpse, die in ihrer Mitte statt¬
fanden, alö der Cartesianismus eingeführt werden sollte. Gegen Pascal ist
er insofern ungerecht, als er auf seine mathematischen Stutsien zu wenig Ge¬
wicht legt, aber sehr scharfsinnig entwickelt er die Verwandtschaft mit Laroche
Foucault in dem Unglauben an alle allgemeine Ideen, in der Zurückführung
aller geistigen Motive aus Selbstsucht und Eitelkeit. Die kirchliche Partei hatte
bis jetzt in ihm den Gläubigen verehrt, der von fester Ueberzeugung getragen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/354>, abgerufen am 25.08.2024.