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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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seiner Ansichten nicht immer genau nahm, daß er mitunter Dinge vortrug, die
er selbst nicht wußte. Er betrachtete seinen Lehrstuhl wie eine Tribüne. Der
gewaltige Zudrang (2000 Zuhörer!) begeisterte ihn, und es war wie ein elek¬
trischer Strom, der zwischen dem Lehrer und den Schülern hin und herging.
Was dem Werk in der Literatur einen bleibenden Werth verleiht, ist daS feine
Verständniß, mit welchem die verschiedenen Richtungen der Cultur, Dichtkunst,
Politik, Sittlichkeit in die Bewegung des abstracten Denkens aufgenommen
sind. Wenn an Gründlichkeit diese Geschichte der Philosophie viel zu wünschen
übrig läßt, so empfiehlt sie sich ebensowol durch die Fülle der Anschauungen
und die Liberalität deS Urtheils, als durch die künstlerische Form. Die Dar¬
stellung ist fast dramatisch bewegt und man empfindet das Ringen deS mensch¬
lichen Geistes, sich über Gott und die Natur selbst klar zu werden, wie die
Entwicklung einer individuellen Seele. Freilich ist die Durchsichtigkeit und das
Feuer dieser Erzählungen durch wissenschaftliche Ungenauigkeit erkauft. Cousin
kennt nur vier Metamorphosen der Philosophie, den Spiritualismus, den Sen¬
sualismus, den Skepticismus und den Mysticismus. Er verfolgt diese Wand¬
lung im Orient, in Griechenland, im Mittelalter und der neueren Zeit. Er
malt sie aus wie eine Action, der er beigewohnt. Die Bilder und Gleichnisse
strömen ihm in reicher Fülle zu und die Macht der Sprache reißt den Zuhörer
fort, auch wo die wissenschaftliche Beglaubigung fern ist. Da gleichzeitig
Villemain in der Literatur, Guizot in der Geschichte das Verständniß für
den Zusammenhang der verschiedenen Culturmomente erweckte, so war die An¬
regung außerordentlich, und was in der spätern Zeit an Detailstudien für die
Geschichte der Philosophie geleistet ist, knüpft sich immer an diesen Cursus
von 1828--1829, der in der Literaturgeschichte Frankreichs eins der bedeutendsten
Ereignisse bleiben wird.

Die Vorlesungen wurden durch die Julirevolution unterbrochen, welche
Cousin in den Strudel des politischen Lebens zog; er hat sie auch in späterer
Zeit nicht wieder aufgenommen. Aber seine Arbeiten für die Geschichte der
Philosophie dauerten ununterbrochen fort. Cousin ist ein ausgezeichneter
Philolog, und in dieser Wissenschaft ein Neuerer, indem er ihre Grundsätze in
vollster Strenge auf die moderne Literatur ausdehnt. Schon 1823 gab er
den Plato, 1820 den Proclus, 1824 den Cartesius heraus, es folgten später
Maine de Biran, AbcUard und Andere. Diese zahlreichen Ausgaben sind
großentheils musterhaft, und entsprechen ebensosehr seiner Neigung, als seinem
Pflichtgefühl. Es war ihm eine Lust, die Bibliotheken nach alten Handschriften
zu durchstöbern, diese miteinander zu vergleichen, unleSbare Manuscripte z"
entziffern, ihre Authenticität herzustellen, und dies Geschäft, das zuerst Lieb¬
haberei war, hat er mit einer Gewissenhaftigkeit getrieben, die seiner historischen
Arbeit mitunter fehlt. Briefe eines berühmten Schriftstellers, die noch nicht,


seiner Ansichten nicht immer genau nahm, daß er mitunter Dinge vortrug, die
er selbst nicht wußte. Er betrachtete seinen Lehrstuhl wie eine Tribüne. Der
gewaltige Zudrang (2000 Zuhörer!) begeisterte ihn, und es war wie ein elek¬
trischer Strom, der zwischen dem Lehrer und den Schülern hin und herging.
Was dem Werk in der Literatur einen bleibenden Werth verleiht, ist daS feine
Verständniß, mit welchem die verschiedenen Richtungen der Cultur, Dichtkunst,
Politik, Sittlichkeit in die Bewegung des abstracten Denkens aufgenommen
sind. Wenn an Gründlichkeit diese Geschichte der Philosophie viel zu wünschen
übrig läßt, so empfiehlt sie sich ebensowol durch die Fülle der Anschauungen
und die Liberalität deS Urtheils, als durch die künstlerische Form. Die Dar¬
stellung ist fast dramatisch bewegt und man empfindet das Ringen deS mensch¬
lichen Geistes, sich über Gott und die Natur selbst klar zu werden, wie die
Entwicklung einer individuellen Seele. Freilich ist die Durchsichtigkeit und das
Feuer dieser Erzählungen durch wissenschaftliche Ungenauigkeit erkauft. Cousin
kennt nur vier Metamorphosen der Philosophie, den Spiritualismus, den Sen¬
sualismus, den Skepticismus und den Mysticismus. Er verfolgt diese Wand¬
lung im Orient, in Griechenland, im Mittelalter und der neueren Zeit. Er
malt sie aus wie eine Action, der er beigewohnt. Die Bilder und Gleichnisse
strömen ihm in reicher Fülle zu und die Macht der Sprache reißt den Zuhörer
fort, auch wo die wissenschaftliche Beglaubigung fern ist. Da gleichzeitig
Villemain in der Literatur, Guizot in der Geschichte das Verständniß für
den Zusammenhang der verschiedenen Culturmomente erweckte, so war die An¬
regung außerordentlich, und was in der spätern Zeit an Detailstudien für die
Geschichte der Philosophie geleistet ist, knüpft sich immer an diesen Cursus
von 1828—1829, der in der Literaturgeschichte Frankreichs eins der bedeutendsten
Ereignisse bleiben wird.

Die Vorlesungen wurden durch die Julirevolution unterbrochen, welche
Cousin in den Strudel des politischen Lebens zog; er hat sie auch in späterer
Zeit nicht wieder aufgenommen. Aber seine Arbeiten für die Geschichte der
Philosophie dauerten ununterbrochen fort. Cousin ist ein ausgezeichneter
Philolog, und in dieser Wissenschaft ein Neuerer, indem er ihre Grundsätze in
vollster Strenge auf die moderne Literatur ausdehnt. Schon 1823 gab er
den Plato, 1820 den Proclus, 1824 den Cartesius heraus, es folgten später
Maine de Biran, AbcUard und Andere. Diese zahlreichen Ausgaben sind
großentheils musterhaft, und entsprechen ebensosehr seiner Neigung, als seinem
Pflichtgefühl. Es war ihm eine Lust, die Bibliotheken nach alten Handschriften
zu durchstöbern, diese miteinander zu vergleichen, unleSbare Manuscripte z»
entziffern, ihre Authenticität herzustellen, und dies Geschäft, das zuerst Lieb¬
haberei war, hat er mit einer Gewissenhaftigkeit getrieben, die seiner historischen
Arbeit mitunter fehlt. Briefe eines berühmten Schriftstellers, die noch nicht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/352>, abgerufen am 23.07.2024.