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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Genüge zu thun, daS französische Volk, welches bisher in der Kunst nur einen
leichten Zeitvertreib gesehen, daran gewöhnt, auch in diesem Genuß das höchste
Ideal sich vorzuhalten. Angeregt und vorbereitet durch diese Ideen erklärt sich
die Begeisterung der Jugend, die zwei Jahre darauf durch LamartineS Medi¬
tationen hervorgerufen wurde.

Die schottische Philosophie war der Ausgangspunkt seines Denkens; bald
aber mußte die Bewegung deS deutschen Geistes, die in ihren Wirkungen auch
im Ausland immer weiter um sich griff, seine Aufmerksamkeit auf sich ziehe".
Für einen selbstzufriedenen Dogmatismus war Kant ein gefährlicherer Gegner,
als die Sensualisten, die er bisher bekämpft. Da er deS Deutschen nur un¬
vollkommen mächtig war, studirte er die Kritik der reinen Vernunft in einer
lateinische" Uebersetzung.*) Die großen Ideen Kants, die sich auf daS sittliche
Leben beziehen, faßte er mit Lebhaftigkeit auf und trug sie mit glänzender Be¬
redsamkeit vor. Aus den eigentlich ^spekulativen Deductionen hat er wunder¬
liche Dinge herausgelesen, und seine Widerlegungen müssen daS Erstaunen
jedes Kundigen hervorrufen; nur dürfen wir nicht zu hart über ihn urtheilen,
da eS in Deutschland Philosophen von Fach gibt, die ebensowenig wissen, waS
es mit der Subjectivität Kants für eine Bewandtniß hat, als der französische
Rhetor. Ein kurzer Aufenthalt in Deutschland, 1817, orientirte oder verwirrte
ihn etwas mehr in Beziehung auf den damaligen Standpunkt der philosophi¬
schen Entwicklung. Seine eigentlich deutsche Periode aber beginnt erst 1824,
wo er auf einer länger" Reise in Berlin als Demagog verhaftet wurde und
diesen Aufenthalt benutzte, sich mit Hilfe von Michelet und Gans mit dem
hegelschen System näher bekannt zu machen. Bereichert mit einer Fülle neuer
Ideen über die Philosophie der Geschichte und die Geschichte der Philosophie
und mit einer Fülle neuer Kunstausdrücke, die sich in der französischen Ueber¬
setzung noch sonderbarer ausnehmen, als im deutschen Text, kehrte er nach
Paris zurück. Die Negierung, die ganz der Reaction anheim gefallen war,
hatte seine Vorlesungen -1820 unterbrochen; er nahm sie 1828 bis 1829 wieder
auf, und diese zweite Reihe hatte einen noch durchgreifender" Erfolg, als die
erste. Dies Mal handelte es sich um eine allgemeine Geschichte der Philo¬
sophie, in der Hauptsache nach dem Vorbild Hegels. Wenn Cousin auf den
innern Kern der Spekulation in den verschiedenen Systemen nicht immer ein¬
geht, so weiß er in ihrer Erscheinung sehr glücklich die charakteristischen Züge
zu entdecken und sie dem Gedächtniß einzuprägen. Seine Vorstudien reichen
nur für einzelne Partien aus. Er gesteht in der spätern Ausgabe, daß er eS
'"> Eifer, von der neuen Redefreiheit Gebrauch zu machen, mit der Begründung



*) l5r hat später eine Biographie Kants geschrieben, die z" den beste" unter seinen histo¬
rischen gehört.

Genüge zu thun, daS französische Volk, welches bisher in der Kunst nur einen
leichten Zeitvertreib gesehen, daran gewöhnt, auch in diesem Genuß das höchste
Ideal sich vorzuhalten. Angeregt und vorbereitet durch diese Ideen erklärt sich
die Begeisterung der Jugend, die zwei Jahre darauf durch LamartineS Medi¬
tationen hervorgerufen wurde.

Die schottische Philosophie war der Ausgangspunkt seines Denkens; bald
aber mußte die Bewegung deS deutschen Geistes, die in ihren Wirkungen auch
im Ausland immer weiter um sich griff, seine Aufmerksamkeit auf sich ziehe».
Für einen selbstzufriedenen Dogmatismus war Kant ein gefährlicherer Gegner,
als die Sensualisten, die er bisher bekämpft. Da er deS Deutschen nur un¬
vollkommen mächtig war, studirte er die Kritik der reinen Vernunft in einer
lateinische» Uebersetzung.*) Die großen Ideen Kants, die sich auf daS sittliche
Leben beziehen, faßte er mit Lebhaftigkeit auf und trug sie mit glänzender Be¬
redsamkeit vor. Aus den eigentlich ^spekulativen Deductionen hat er wunder¬
liche Dinge herausgelesen, und seine Widerlegungen müssen daS Erstaunen
jedes Kundigen hervorrufen; nur dürfen wir nicht zu hart über ihn urtheilen,
da eS in Deutschland Philosophen von Fach gibt, die ebensowenig wissen, waS
es mit der Subjectivität Kants für eine Bewandtniß hat, als der französische
Rhetor. Ein kurzer Aufenthalt in Deutschland, 1817, orientirte oder verwirrte
ihn etwas mehr in Beziehung auf den damaligen Standpunkt der philosophi¬
schen Entwicklung. Seine eigentlich deutsche Periode aber beginnt erst 1824,
wo er auf einer länger» Reise in Berlin als Demagog verhaftet wurde und
diesen Aufenthalt benutzte, sich mit Hilfe von Michelet und Gans mit dem
hegelschen System näher bekannt zu machen. Bereichert mit einer Fülle neuer
Ideen über die Philosophie der Geschichte und die Geschichte der Philosophie
und mit einer Fülle neuer Kunstausdrücke, die sich in der französischen Ueber¬
setzung noch sonderbarer ausnehmen, als im deutschen Text, kehrte er nach
Paris zurück. Die Negierung, die ganz der Reaction anheim gefallen war,
hatte seine Vorlesungen -1820 unterbrochen; er nahm sie 1828 bis 1829 wieder
auf, und diese zweite Reihe hatte einen noch durchgreifender» Erfolg, als die
erste. Dies Mal handelte es sich um eine allgemeine Geschichte der Philo¬
sophie, in der Hauptsache nach dem Vorbild Hegels. Wenn Cousin auf den
innern Kern der Spekulation in den verschiedenen Systemen nicht immer ein¬
geht, so weiß er in ihrer Erscheinung sehr glücklich die charakteristischen Züge
zu entdecken und sie dem Gedächtniß einzuprägen. Seine Vorstudien reichen
nur für einzelne Partien aus. Er gesteht in der spätern Ausgabe, daß er eS
'»> Eifer, von der neuen Redefreiheit Gebrauch zu machen, mit der Begründung



*) l5r hat später eine Biographie Kants geschrieben, die z» den beste» unter seinen histo¬
rischen gehört.
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[0351] Genüge zu thun, daS französische Volk, welches bisher in der Kunst nur einen leichten Zeitvertreib gesehen, daran gewöhnt, auch in diesem Genuß das höchste Ideal sich vorzuhalten. Angeregt und vorbereitet durch diese Ideen erklärt sich die Begeisterung der Jugend, die zwei Jahre darauf durch LamartineS Medi¬ tationen hervorgerufen wurde. Die schottische Philosophie war der Ausgangspunkt seines Denkens; bald aber mußte die Bewegung deS deutschen Geistes, die in ihren Wirkungen auch im Ausland immer weiter um sich griff, seine Aufmerksamkeit auf sich ziehe». Für einen selbstzufriedenen Dogmatismus war Kant ein gefährlicherer Gegner, als die Sensualisten, die er bisher bekämpft. Da er deS Deutschen nur un¬ vollkommen mächtig war, studirte er die Kritik der reinen Vernunft in einer lateinische» Uebersetzung.*) Die großen Ideen Kants, die sich auf daS sittliche Leben beziehen, faßte er mit Lebhaftigkeit auf und trug sie mit glänzender Be¬ redsamkeit vor. Aus den eigentlich ^spekulativen Deductionen hat er wunder¬ liche Dinge herausgelesen, und seine Widerlegungen müssen daS Erstaunen jedes Kundigen hervorrufen; nur dürfen wir nicht zu hart über ihn urtheilen, da eS in Deutschland Philosophen von Fach gibt, die ebensowenig wissen, waS es mit der Subjectivität Kants für eine Bewandtniß hat, als der französische Rhetor. Ein kurzer Aufenthalt in Deutschland, 1817, orientirte oder verwirrte ihn etwas mehr in Beziehung auf den damaligen Standpunkt der philosophi¬ schen Entwicklung. Seine eigentlich deutsche Periode aber beginnt erst 1824, wo er auf einer länger» Reise in Berlin als Demagog verhaftet wurde und diesen Aufenthalt benutzte, sich mit Hilfe von Michelet und Gans mit dem hegelschen System näher bekannt zu machen. Bereichert mit einer Fülle neuer Ideen über die Philosophie der Geschichte und die Geschichte der Philosophie und mit einer Fülle neuer Kunstausdrücke, die sich in der französischen Ueber¬ setzung noch sonderbarer ausnehmen, als im deutschen Text, kehrte er nach Paris zurück. Die Negierung, die ganz der Reaction anheim gefallen war, hatte seine Vorlesungen -1820 unterbrochen; er nahm sie 1828 bis 1829 wieder auf, und diese zweite Reihe hatte einen noch durchgreifender» Erfolg, als die erste. Dies Mal handelte es sich um eine allgemeine Geschichte der Philo¬ sophie, in der Hauptsache nach dem Vorbild Hegels. Wenn Cousin auf den innern Kern der Spekulation in den verschiedenen Systemen nicht immer ein¬ geht, so weiß er in ihrer Erscheinung sehr glücklich die charakteristischen Züge zu entdecken und sie dem Gedächtniß einzuprägen. Seine Vorstudien reichen nur für einzelne Partien aus. Er gesteht in der spätern Ausgabe, daß er eS '»> Eifer, von der neuen Redefreiheit Gebrauch zu machen, mit der Begründung *) l5r hat später eine Biographie Kants geschrieben, die z» den beste» unter seinen histo¬ rischen gehört.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/351>, abgerufen am 22.07.2024.