Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

land hatte damals der Stock noch nicht jene symbolische Bedeutung., die er
heute hat, und daß Friedrich William I., wenn man den Kern seines Lebens
betrachtet, nicht jener aus einem Irrenhaus ausgebrochene Rasende war, wie
er ihn schildert, davon hätten ihn die schönen Worte seines Sohnes über¬
führen können.

Als Künstler, als geistvoller und witziger Schriftsteller steht Macaulay in
dieser Abhandlung sehr hoch; aber die Gewalt, welche die Einbildungskraft
über sein historisches Gewissen ausübt, wäre ein bedenkliches Zeichen für
seinen Beruf, wenn eS nicht durch andere große Leistungen widerlegt würde.
In seiner englischen Geschichte und in den dazu gehörigen Versuchen hat ihn
seine Vaterlandsliebe und der gesunde praktische Sinn, der die concreten Ver¬
hältnisse, in denen er lebt, in ihrem Zusammenhang zu verfolgen versteht, vor
den Ueberschreitungen seines Witzes und seiner Phantasie bewahrt. Wo ihm
aber diese Handhabe fehlte, darf man ihm nicht unbedingt vertrauen, und
weil auch diese Einsicht, wenn auch nur negativ, das Verständniß eines be¬
deutenden Schriftstellers fördert, ist die Herausgabe der vorliegenden Abhand¬
I. S. lung mit Dank aufzunehmen.




Skizzen aus der Moldau.
i.
Zigeuner, Freibauern, Beamte.

Die unterste Stufe der Bevölkerung in der Moldau bilden die Zigeuner,
die man hier fast allgemein als Landplage ansteht. Dieser merkwürdige Men¬
schenstamm zerfällt in drei leicht zu unterscheidende Classen. Die erste, unter
dem Namen Lajeschi oder Tschetaschi bekannt oder vielmehr berüchtigt, ist die
zahlreichste und verdient vor den beiden andern die Bezeichnung einer Land-
Plage; etwas Roheres ist in Europa kaum mehr zu finden, und eS werden
mehre Menschenalter vergehen, ehe da ein Civilisationsversuch .wirksam wer¬
den kann. ES ist schmerzlich, ein Verdammungsurtheil über einen ganzen
Stamm fällen zu müssen, aber niemand wird uns widersprechen, wenn wir
behaupten: alle Zigeuner dieser Classe seien Diebe, manche sogar bei Gelegen¬
heit auch Mörder. Es mag einzelne Ausnahmen geben -- uns ist keine zu
Ohren gekommen. Zur Feldarbeit sind sie weder durch Güte, noch durch
Strenge zu bewegen. In Lumpen gehüllt, oft ganz nackt, sitzen die dunkel¬
braunen Gestatten im Sommer unter Zelten, im Winter in Erdhütten; höchst
hellen findet man ein einzelnes Zelt, eine einzelne Erdhütte, immer scharen
sich mehre Familien zusammen, und die kreischenden Weiberstimmen verkünden
""''


t"

land hatte damals der Stock noch nicht jene symbolische Bedeutung., die er
heute hat, und daß Friedrich William I., wenn man den Kern seines Lebens
betrachtet, nicht jener aus einem Irrenhaus ausgebrochene Rasende war, wie
er ihn schildert, davon hätten ihn die schönen Worte seines Sohnes über¬
führen können.

Als Künstler, als geistvoller und witziger Schriftsteller steht Macaulay in
dieser Abhandlung sehr hoch; aber die Gewalt, welche die Einbildungskraft
über sein historisches Gewissen ausübt, wäre ein bedenkliches Zeichen für
seinen Beruf, wenn eS nicht durch andere große Leistungen widerlegt würde.
In seiner englischen Geschichte und in den dazu gehörigen Versuchen hat ihn
seine Vaterlandsliebe und der gesunde praktische Sinn, der die concreten Ver¬
hältnisse, in denen er lebt, in ihrem Zusammenhang zu verfolgen versteht, vor
den Ueberschreitungen seines Witzes und seiner Phantasie bewahrt. Wo ihm
aber diese Handhabe fehlte, darf man ihm nicht unbedingt vertrauen, und
weil auch diese Einsicht, wenn auch nur negativ, das Verständniß eines be¬
deutenden Schriftstellers fördert, ist die Herausgabe der vorliegenden Abhand¬
I. S. lung mit Dank aufzunehmen.




Skizzen aus der Moldau.
i.
Zigeuner, Freibauern, Beamte.

Die unterste Stufe der Bevölkerung in der Moldau bilden die Zigeuner,
die man hier fast allgemein als Landplage ansteht. Dieser merkwürdige Men¬
schenstamm zerfällt in drei leicht zu unterscheidende Classen. Die erste, unter
dem Namen Lajeschi oder Tschetaschi bekannt oder vielmehr berüchtigt, ist die
zahlreichste und verdient vor den beiden andern die Bezeichnung einer Land-
Plage; etwas Roheres ist in Europa kaum mehr zu finden, und eS werden
mehre Menschenalter vergehen, ehe da ein Civilisationsversuch .wirksam wer¬
den kann. ES ist schmerzlich, ein Verdammungsurtheil über einen ganzen
Stamm fällen zu müssen, aber niemand wird uns widersprechen, wenn wir
behaupten: alle Zigeuner dieser Classe seien Diebe, manche sogar bei Gelegen¬
heit auch Mörder. Es mag einzelne Ausnahmen geben — uns ist keine zu
Ohren gekommen. Zur Feldarbeit sind sie weder durch Güte, noch durch
Strenge zu bewegen. In Lumpen gehüllt, oft ganz nackt, sitzen die dunkel¬
braunen Gestatten im Sommer unter Zelten, im Winter in Erdhütten; höchst
hellen findet man ein einzelnes Zelt, eine einzelne Erdhütte, immer scharen
sich mehre Familien zusammen, und die kreischenden Weiberstimmen verkünden
""''


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0035" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104236"/>
          <p xml:id="ID_81" prev="#ID_80"> land hatte damals der Stock noch nicht jene symbolische Bedeutung., die er<lb/>
heute hat, und daß Friedrich William I., wenn man den Kern seines Lebens<lb/>
betrachtet, nicht jener aus einem Irrenhaus ausgebrochene Rasende war, wie<lb/>
er ihn schildert, davon hätten ihn die schönen Worte seines Sohnes über¬<lb/>
führen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_82"> Als Künstler, als geistvoller und witziger Schriftsteller steht Macaulay in<lb/>
dieser Abhandlung sehr hoch; aber die Gewalt, welche die Einbildungskraft<lb/>
über sein historisches Gewissen ausübt, wäre ein bedenkliches Zeichen für<lb/>
seinen Beruf, wenn eS nicht durch andere große Leistungen widerlegt würde.<lb/>
In seiner englischen Geschichte und in den dazu gehörigen Versuchen hat ihn<lb/>
seine Vaterlandsliebe und der gesunde praktische Sinn, der die concreten Ver¬<lb/>
hältnisse, in denen er lebt, in ihrem Zusammenhang zu verfolgen versteht, vor<lb/>
den Ueberschreitungen seines Witzes und seiner Phantasie bewahrt. Wo ihm<lb/>
aber diese Handhabe fehlte, darf man ihm nicht unbedingt vertrauen, und<lb/>
weil auch diese Einsicht, wenn auch nur negativ, das Verständniß eines be¬<lb/>
deutenden Schriftstellers fördert, ist die Herausgabe der vorliegenden Abhand¬<lb/><note type="byline"> I. S.</note> lung mit Dank aufzunehmen. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Skizzen aus der Moldau.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> i.<lb/>
Zigeuner, Freibauern, Beamte.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_83" next="#ID_84"> Die unterste Stufe der Bevölkerung in der Moldau bilden die Zigeuner,<lb/>
die man hier fast allgemein als Landplage ansteht. Dieser merkwürdige Men¬<lb/>
schenstamm zerfällt in drei leicht zu unterscheidende Classen. Die erste, unter<lb/>
dem Namen Lajeschi oder Tschetaschi bekannt oder vielmehr berüchtigt, ist die<lb/>
zahlreichste und verdient vor den beiden andern die Bezeichnung einer Land-<lb/>
Plage; etwas Roheres ist in Europa kaum mehr zu finden, und eS werden<lb/>
mehre Menschenalter vergehen, ehe da ein Civilisationsversuch .wirksam wer¬<lb/>
den kann. ES ist schmerzlich, ein Verdammungsurtheil über einen ganzen<lb/>
Stamm fällen zu müssen, aber niemand wird uns widersprechen, wenn wir<lb/>
behaupten: alle Zigeuner dieser Classe seien Diebe, manche sogar bei Gelegen¬<lb/>
heit auch Mörder. Es mag einzelne Ausnahmen geben &#x2014; uns ist keine zu<lb/>
Ohren gekommen. Zur Feldarbeit sind sie weder durch Güte, noch durch<lb/>
Strenge zu bewegen. In Lumpen gehüllt, oft ganz nackt, sitzen die dunkel¬<lb/>
braunen Gestatten im Sommer unter Zelten, im Winter in Erdhütten; höchst<lb/>
hellen findet man ein einzelnes Zelt, eine einzelne Erdhütte, immer scharen<lb/>
sich mehre Familien zusammen, und die kreischenden Weiberstimmen verkünden<lb/>
""''</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"></fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0035] land hatte damals der Stock noch nicht jene symbolische Bedeutung., die er heute hat, und daß Friedrich William I., wenn man den Kern seines Lebens betrachtet, nicht jener aus einem Irrenhaus ausgebrochene Rasende war, wie er ihn schildert, davon hätten ihn die schönen Worte seines Sohnes über¬ führen können. Als Künstler, als geistvoller und witziger Schriftsteller steht Macaulay in dieser Abhandlung sehr hoch; aber die Gewalt, welche die Einbildungskraft über sein historisches Gewissen ausübt, wäre ein bedenkliches Zeichen für seinen Beruf, wenn eS nicht durch andere große Leistungen widerlegt würde. In seiner englischen Geschichte und in den dazu gehörigen Versuchen hat ihn seine Vaterlandsliebe und der gesunde praktische Sinn, der die concreten Ver¬ hältnisse, in denen er lebt, in ihrem Zusammenhang zu verfolgen versteht, vor den Ueberschreitungen seines Witzes und seiner Phantasie bewahrt. Wo ihm aber diese Handhabe fehlte, darf man ihm nicht unbedingt vertrauen, und weil auch diese Einsicht, wenn auch nur negativ, das Verständniß eines be¬ deutenden Schriftstellers fördert, ist die Herausgabe der vorliegenden Abhand¬ I. S. lung mit Dank aufzunehmen. Skizzen aus der Moldau. i. Zigeuner, Freibauern, Beamte. Die unterste Stufe der Bevölkerung in der Moldau bilden die Zigeuner, die man hier fast allgemein als Landplage ansteht. Dieser merkwürdige Men¬ schenstamm zerfällt in drei leicht zu unterscheidende Classen. Die erste, unter dem Namen Lajeschi oder Tschetaschi bekannt oder vielmehr berüchtigt, ist die zahlreichste und verdient vor den beiden andern die Bezeichnung einer Land- Plage; etwas Roheres ist in Europa kaum mehr zu finden, und eS werden mehre Menschenalter vergehen, ehe da ein Civilisationsversuch .wirksam wer¬ den kann. ES ist schmerzlich, ein Verdammungsurtheil über einen ganzen Stamm fällen zu müssen, aber niemand wird uns widersprechen, wenn wir behaupten: alle Zigeuner dieser Classe seien Diebe, manche sogar bei Gelegen¬ heit auch Mörder. Es mag einzelne Ausnahmen geben — uns ist keine zu Ohren gekommen. Zur Feldarbeit sind sie weder durch Güte, noch durch Strenge zu bewegen. In Lumpen gehüllt, oft ganz nackt, sitzen die dunkel¬ braunen Gestatten im Sommer unter Zelten, im Winter in Erdhütten; höchst hellen findet man ein einzelnes Zelt, eine einzelne Erdhütte, immer scharen sich mehre Familien zusammen, und die kreischenden Weiberstimmen verkünden ""'' t»

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/35
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/35>, abgerufen am 12.12.2024.