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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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gerben Tag den lieben Gott sorgen läßt; man muß in dem Dichter die Kraft
der Phantasie bewundern, die ihm das Schöne in den lebhaftesten Farben zu¬
gänglich macht, aber nicht die politische Gesinnung. Wer aus Bvrangers
Liedern ein Glaubensbekenntniß des politischen Liberalismus oder der Republik
abstrahiren wollte, würde ein ganz erstaunliches Quodlibet zusammenbringen.
Freilich empfindet der Dichter stark genug, um seinen Traumbildern einen er¬
greifenden energischen Ausdruck zu leihen, aber sein Gefühl geht vom In¬
dividuellen zum Allgemeinen, nicht umgekehrt, und darum ist die Einwirkung aus
die politisch religiöse Gesinnung der Nation ebenso groß als schädlich gewesen.
Der Dichter hat von seinem Standpunkte aus vollkommen recht, sich für die
herumziehenden Invaliden zu begeistern, die ihm von ihren Heldenthaten er¬
zählten und sich über das Pfaffenregiment beklagten, welches sie verhungern
ließ; aber es war schlimm genug, daß diese Lieder in eine Zeit fielen, deren
Ueberzeugungen so schwankend und unbestimmt waren, daß sie den poetischen
Eindrücken einen freien Spielraum öffneten. Berangers Verehrer bewegen sich
in einem wunderlichen Dilemma: bald preisen sie den Dichter, der in dem
Volke die Liebe der Freiheit entzündet und die großen Fortschritte der Nation
vermittelt habe; wenn man aber die Zweckmäßigkeit dieser Fortschritte in Frage
stellt, so beanspruchen sie sür den Dichter das Recht, unbeirrt durch politische
Rücksichten nach seiner individuellen Stimmung zu empfinden. Man muß
beide Momente in Rechnung bringen, um den Dichter vollständig zu würdigen;
mit vollem Behagen verweilt man aber nur bei denjenigen Bildern, wo er
reiner Dichter ist, wo er das Mitgefühl aller Leser erregt, die menschlich sub--
im, gleichviel welcher Partei sie angehören. In die erste Reihe dieser Bilder
stellen wir den alten Sergeanten (1823). Trotz ihres geringen Umfangs ist
die Geschichte fast dramatisch behandelt. Der alte Invalide sitzt neben dem
Spinnrad seiner Tochter, wiegt ihre Kinder und gedenkt alter Geschichten.


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Diese Gemüthsbewegung fühlt jeder echte Mensch mit, jeder folgt dem alten
Soldaten in die Träume vergangener Größe, bis ihm endlich die Tochter mit
leiser Stimme die Marseillaise vorsingt, und die Hoffnung einer neuen Erhe¬
bung in ihm weckt. Jeder Zug ist der Natur abgelauscht und mit vollendeter
Kunst wiedergegeben. - Ebenso in dem Lied des Alten, der während eines


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gerben Tag den lieben Gott sorgen läßt; man muß in dem Dichter die Kraft
der Phantasie bewundern, die ihm das Schöne in den lebhaftesten Farben zu¬
gänglich macht, aber nicht die politische Gesinnung. Wer aus Bvrangers
Liedern ein Glaubensbekenntniß des politischen Liberalismus oder der Republik
abstrahiren wollte, würde ein ganz erstaunliches Quodlibet zusammenbringen.
Freilich empfindet der Dichter stark genug, um seinen Traumbildern einen er¬
greifenden energischen Ausdruck zu leihen, aber sein Gefühl geht vom In¬
dividuellen zum Allgemeinen, nicht umgekehrt, und darum ist die Einwirkung aus
die politisch religiöse Gesinnung der Nation ebenso groß als schädlich gewesen.
Der Dichter hat von seinem Standpunkte aus vollkommen recht, sich für die
herumziehenden Invaliden zu begeistern, die ihm von ihren Heldenthaten er¬
zählten und sich über das Pfaffenregiment beklagten, welches sie verhungern
ließ; aber es war schlimm genug, daß diese Lieder in eine Zeit fielen, deren
Ueberzeugungen so schwankend und unbestimmt waren, daß sie den poetischen
Eindrücken einen freien Spielraum öffneten. Berangers Verehrer bewegen sich
in einem wunderlichen Dilemma: bald preisen sie den Dichter, der in dem
Volke die Liebe der Freiheit entzündet und die großen Fortschritte der Nation
vermittelt habe; wenn man aber die Zweckmäßigkeit dieser Fortschritte in Frage
stellt, so beanspruchen sie sür den Dichter das Recht, unbeirrt durch politische
Rücksichten nach seiner individuellen Stimmung zu empfinden. Man muß
beide Momente in Rechnung bringen, um den Dichter vollständig zu würdigen;
mit vollem Behagen verweilt man aber nur bei denjenigen Bildern, wo er
reiner Dichter ist, wo er das Mitgefühl aller Leser erregt, die menschlich sub--
im, gleichviel welcher Partei sie angehören. In die erste Reihe dieser Bilder
stellen wir den alten Sergeanten (1823). Trotz ihres geringen Umfangs ist
die Geschichte fast dramatisch behandelt. Der alte Invalide sitzt neben dem
Spinnrad seiner Tochter, wiegt ihre Kinder und gedenkt alter Geschichten.


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Diese Gemüthsbewegung fühlt jeder echte Mensch mit, jeder folgt dem alten
Soldaten in die Träume vergangener Größe, bis ihm endlich die Tochter mit
leiser Stimme die Marseillaise vorsingt, und die Hoffnung einer neuen Erhe¬
bung in ihm weckt. Jeder Zug ist der Natur abgelauscht und mit vollendeter
Kunst wiedergegeben. - Ebenso in dem Lied des Alten, der während eines


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[0195] gerben Tag den lieben Gott sorgen läßt; man muß in dem Dichter die Kraft der Phantasie bewundern, die ihm das Schöne in den lebhaftesten Farben zu¬ gänglich macht, aber nicht die politische Gesinnung. Wer aus Bvrangers Liedern ein Glaubensbekenntniß des politischen Liberalismus oder der Republik abstrahiren wollte, würde ein ganz erstaunliches Quodlibet zusammenbringen. Freilich empfindet der Dichter stark genug, um seinen Traumbildern einen er¬ greifenden energischen Ausdruck zu leihen, aber sein Gefühl geht vom In¬ dividuellen zum Allgemeinen, nicht umgekehrt, und darum ist die Einwirkung aus die politisch religiöse Gesinnung der Nation ebenso groß als schädlich gewesen. Der Dichter hat von seinem Standpunkte aus vollkommen recht, sich für die herumziehenden Invaliden zu begeistern, die ihm von ihren Heldenthaten er¬ zählten und sich über das Pfaffenregiment beklagten, welches sie verhungern ließ; aber es war schlimm genug, daß diese Lieder in eine Zeit fielen, deren Ueberzeugungen so schwankend und unbestimmt waren, daß sie den poetischen Eindrücken einen freien Spielraum öffneten. Berangers Verehrer bewegen sich in einem wunderlichen Dilemma: bald preisen sie den Dichter, der in dem Volke die Liebe der Freiheit entzündet und die großen Fortschritte der Nation vermittelt habe; wenn man aber die Zweckmäßigkeit dieser Fortschritte in Frage stellt, so beanspruchen sie sür den Dichter das Recht, unbeirrt durch politische Rücksichten nach seiner individuellen Stimmung zu empfinden. Man muß beide Momente in Rechnung bringen, um den Dichter vollständig zu würdigen; mit vollem Behagen verweilt man aber nur bei denjenigen Bildern, wo er reiner Dichter ist, wo er das Mitgefühl aller Leser erregt, die menschlich sub-- im, gleichviel welcher Partei sie angehören. In die erste Reihe dieser Bilder stellen wir den alten Sergeanten (1823). Trotz ihres geringen Umfangs ist die Geschichte fast dramatisch behandelt. Der alte Invalide sitzt neben dem Spinnrad seiner Tochter, wiegt ihre Kinder und gedenkt alter Geschichten. l^u'erUömI-it? I^s «.umbour <^ni resonne: II vit, un loin j>!>ssei' un buUulloii. I^IZ 8iMF I'emoiil,« 80N troM' uni grisomiL, I^e vieux eouisier i> 8v>ni I'aiguillon. Ilklus! «omliiin, ki-^teneri, it s'6orie: L'oft un clrsnonu c^no,je ne vorn-us n»s! ^b! si ,j!>M!u« vous vöiigeü III put-rie, Dien, mes ont'aut.8, vou« etonne un beim ir6pi>8! Diese Gemüthsbewegung fühlt jeder echte Mensch mit, jeder folgt dem alten Soldaten in die Träume vergangener Größe, bis ihm endlich die Tochter mit leiser Stimme die Marseillaise vorsingt, und die Hoffnung einer neuen Erhe¬ bung in ihm weckt. Jeder Zug ist der Natur abgelauscht und mit vollendeter Kunst wiedergegeben. - Ebenso in dem Lied des Alten, der während eines 24*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/195>, abgerufen am 24.08.2024.