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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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künstlerischen Kundgebungen der unmittelbaren Gegenwart an sich vorüber¬
ziehen läßt, an die vielen Dramen, die nur zur Lectüre bestimmt sind, ^und an
die Bilder, deren Anschauung einen geringeren Genuß bietet, als die Erkennt¬
niß ihres Inhalts aus dem glücklicherweise beigegebenen Programm, sich
erinnert, und erwägt, wie wenig unsre Künstler sich bestreben, die bestimmte
Art Phantasie, die in der von ihnen betriebenen Kunstgattung gilt, zu entwickeln
und sich begnügen, einen allgemeinen künstlerischen Jnstinct zur Schau zu
tragen, der höchstens zum Titel eines Kunstdilettanten berechtigt, so muß man
leider, wenn auch seufzend, die theilweise Berechtigung jenes Vorwurfes zu¬
gestehen. Und noch einem anderen Vorwurfe, welchen Viollet-le-Duc vor¬
bringt, stehen wir wehrlos 'gegenüber. Er betrifft die geringe Läuterung
unseres allerdings außerordentlichen Sammeltriebes durch kritischen Sinn. In
keinem Lande Europas wird gegenwärtig so viel gesammelt, in keinem aber auch
für die Scheidung des Gesammelten nach seinem innern Werthe, für eine
kritische Richtung desselben so wenig gethan, als in Deutschland. Dieser
Fehler, in der Anlage unserer städtischen- und Provinzialmuseen dem Kenner
schon längst fühlbar, droht sogar auf die kunstliterarischen Sammelwerke sich
auszudehnen. Theils um dem frommen Rath, man solle auch von den
Feinden lernen, Folge zu leisten, theils um von der deutschen Kritik l/en Vor¬
wurf abzuwehren, als lasse sie sich von allem, was den Schein des Patriotis¬
mus an sich trägt, gefangen nehmen, benutzen wir die Gelegenheit, gegen einen
unverantwortlichen Mißbrauch deutscher Geduld die Stimme zu erheben.

Seil mehren Jahren erscheint in Nürnberg ein Bilderbuch, zwar nicht
unter den unmittelbaren Auspicien des germanischen Museums, wol aber
von dem Vorstande und dem Evnservator der Kunstsammlung dieses
Institutes herausgegeben, also mindestens von officivser Geltung. ES
führt den Titel: Kunst und Leben der Vorzeit und geht von dem Beginn
des Mittelalters bis zum Anfang unsres Jahrhunderts. Schon der Titel,
der unsere Vorzeit bis zum eben verflossenen Menschenalter ausdehnt, ja,
wie ein aufgenommenes Bild beweist, nicht einmal unser Jahrhundert als
Grenze der Vorzeit festhält, zwingt uns unwillkürlich ein Lächeln ab,
und erinnert an das Gebahren eines anderen Archäologen, deS Herrn Kalten-
bach, der eine Schilderung deutscher Bauformen "bis zum Beginn des jetzigen
Jahrtausends" herausgab und mit dem elften Jahrhundert den Anfang machte.
Der paradoxe Titel ist übrigens das mindest Tadelnswerthe an dem Werke.
ES kostet nicht geringe Mühe, unter den russischen und ungarischen Soldaten,
den' französischen Tanzmeistern und den Hofcavalieren Ludwig XIV. die Gestal¬
ten deutscher Vorzeit zu entdecken, und aus den mit besonderer Vorliebe vor¬
geführten Zopffiguren die Illustrationen zum heimischen Mittelalter herauszu¬
finden. Wir greifen aus gut Glück die letzten fünf Hefte heraus und zahlen


künstlerischen Kundgebungen der unmittelbaren Gegenwart an sich vorüber¬
ziehen läßt, an die vielen Dramen, die nur zur Lectüre bestimmt sind, ^und an
die Bilder, deren Anschauung einen geringeren Genuß bietet, als die Erkennt¬
niß ihres Inhalts aus dem glücklicherweise beigegebenen Programm, sich
erinnert, und erwägt, wie wenig unsre Künstler sich bestreben, die bestimmte
Art Phantasie, die in der von ihnen betriebenen Kunstgattung gilt, zu entwickeln
und sich begnügen, einen allgemeinen künstlerischen Jnstinct zur Schau zu
tragen, der höchstens zum Titel eines Kunstdilettanten berechtigt, so muß man
leider, wenn auch seufzend, die theilweise Berechtigung jenes Vorwurfes zu¬
gestehen. Und noch einem anderen Vorwurfe, welchen Viollet-le-Duc vor¬
bringt, stehen wir wehrlos 'gegenüber. Er betrifft die geringe Läuterung
unseres allerdings außerordentlichen Sammeltriebes durch kritischen Sinn. In
keinem Lande Europas wird gegenwärtig so viel gesammelt, in keinem aber auch
für die Scheidung des Gesammelten nach seinem innern Werthe, für eine
kritische Richtung desselben so wenig gethan, als in Deutschland. Dieser
Fehler, in der Anlage unserer städtischen- und Provinzialmuseen dem Kenner
schon längst fühlbar, droht sogar auf die kunstliterarischen Sammelwerke sich
auszudehnen. Theils um dem frommen Rath, man solle auch von den
Feinden lernen, Folge zu leisten, theils um von der deutschen Kritik l/en Vor¬
wurf abzuwehren, als lasse sie sich von allem, was den Schein des Patriotis¬
mus an sich trägt, gefangen nehmen, benutzen wir die Gelegenheit, gegen einen
unverantwortlichen Mißbrauch deutscher Geduld die Stimme zu erheben.

Seil mehren Jahren erscheint in Nürnberg ein Bilderbuch, zwar nicht
unter den unmittelbaren Auspicien des germanischen Museums, wol aber
von dem Vorstande und dem Evnservator der Kunstsammlung dieses
Institutes herausgegeben, also mindestens von officivser Geltung. ES
führt den Titel: Kunst und Leben der Vorzeit und geht von dem Beginn
des Mittelalters bis zum Anfang unsres Jahrhunderts. Schon der Titel,
der unsere Vorzeit bis zum eben verflossenen Menschenalter ausdehnt, ja,
wie ein aufgenommenes Bild beweist, nicht einmal unser Jahrhundert als
Grenze der Vorzeit festhält, zwingt uns unwillkürlich ein Lächeln ab,
und erinnert an das Gebahren eines anderen Archäologen, deS Herrn Kalten-
bach, der eine Schilderung deutscher Bauformen „bis zum Beginn des jetzigen
Jahrtausends" herausgab und mit dem elften Jahrhundert den Anfang machte.
Der paradoxe Titel ist übrigens das mindest Tadelnswerthe an dem Werke.
ES kostet nicht geringe Mühe, unter den russischen und ungarischen Soldaten,
den' französischen Tanzmeistern und den Hofcavalieren Ludwig XIV. die Gestal¬
ten deutscher Vorzeit zu entdecken, und aus den mit besonderer Vorliebe vor¬
geführten Zopffiguren die Illustrationen zum heimischen Mittelalter herauszu¬
finden. Wir greifen aus gut Glück die letzten fünf Hefte heraus und zahlen


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[0154] künstlerischen Kundgebungen der unmittelbaren Gegenwart an sich vorüber¬ ziehen läßt, an die vielen Dramen, die nur zur Lectüre bestimmt sind, ^und an die Bilder, deren Anschauung einen geringeren Genuß bietet, als die Erkennt¬ niß ihres Inhalts aus dem glücklicherweise beigegebenen Programm, sich erinnert, und erwägt, wie wenig unsre Künstler sich bestreben, die bestimmte Art Phantasie, die in der von ihnen betriebenen Kunstgattung gilt, zu entwickeln und sich begnügen, einen allgemeinen künstlerischen Jnstinct zur Schau zu tragen, der höchstens zum Titel eines Kunstdilettanten berechtigt, so muß man leider, wenn auch seufzend, die theilweise Berechtigung jenes Vorwurfes zu¬ gestehen. Und noch einem anderen Vorwurfe, welchen Viollet-le-Duc vor¬ bringt, stehen wir wehrlos 'gegenüber. Er betrifft die geringe Läuterung unseres allerdings außerordentlichen Sammeltriebes durch kritischen Sinn. In keinem Lande Europas wird gegenwärtig so viel gesammelt, in keinem aber auch für die Scheidung des Gesammelten nach seinem innern Werthe, für eine kritische Richtung desselben so wenig gethan, als in Deutschland. Dieser Fehler, in der Anlage unserer städtischen- und Provinzialmuseen dem Kenner schon längst fühlbar, droht sogar auf die kunstliterarischen Sammelwerke sich auszudehnen. Theils um dem frommen Rath, man solle auch von den Feinden lernen, Folge zu leisten, theils um von der deutschen Kritik l/en Vor¬ wurf abzuwehren, als lasse sie sich von allem, was den Schein des Patriotis¬ mus an sich trägt, gefangen nehmen, benutzen wir die Gelegenheit, gegen einen unverantwortlichen Mißbrauch deutscher Geduld die Stimme zu erheben. Seil mehren Jahren erscheint in Nürnberg ein Bilderbuch, zwar nicht unter den unmittelbaren Auspicien des germanischen Museums, wol aber von dem Vorstande und dem Evnservator der Kunstsammlung dieses Institutes herausgegeben, also mindestens von officivser Geltung. ES führt den Titel: Kunst und Leben der Vorzeit und geht von dem Beginn des Mittelalters bis zum Anfang unsres Jahrhunderts. Schon der Titel, der unsere Vorzeit bis zum eben verflossenen Menschenalter ausdehnt, ja, wie ein aufgenommenes Bild beweist, nicht einmal unser Jahrhundert als Grenze der Vorzeit festhält, zwingt uns unwillkürlich ein Lächeln ab, und erinnert an das Gebahren eines anderen Archäologen, deS Herrn Kalten- bach, der eine Schilderung deutscher Bauformen „bis zum Beginn des jetzigen Jahrtausends" herausgab und mit dem elften Jahrhundert den Anfang machte. Der paradoxe Titel ist übrigens das mindest Tadelnswerthe an dem Werke. ES kostet nicht geringe Mühe, unter den russischen und ungarischen Soldaten, den' französischen Tanzmeistern und den Hofcavalieren Ludwig XIV. die Gestal¬ ten deutscher Vorzeit zu entdecken, und aus den mit besonderer Vorliebe vor¬ geführten Zopffiguren die Illustrationen zum heimischen Mittelalter herauszu¬ finden. Wir greifen aus gut Glück die letzten fünf Hefte heraus und zahlen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/154>, abgerufen am 24.08.2024.