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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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wol eines Umweges von einigen Tagereisen werth. Unsere Reisenden machen sich
auf den Weg, voll der größten Erwartungen, in jeder Stadt fragen sie nach den
gerühmten Schätzen, bei jedem Kunstfreunde, auf welchen sie stoßen, erkundigen
sie sich nach dem kostbaren Denkmale. Niemand widerlegt ihre Erwartungen,
aber niemand bestätigt auch dieselben. Ungeduldig langen sie endlich in Tegernsee
an, um -- einem schlechten Kirchenbau aus dem vorigen Jahrhundert mit blanken
Fenstern ihre Ehrfurcht zu beweisen. Daß man in Paris eine schriftliche
Nachricht aus dem Ende des zehnten Jahrhunderts, ein Dankschreiben deS
Abtes Gozbert von Tegernsee an einen Grasen Arnold für ein Geschenk bunt¬
gemalter Fenster mit einem wirklichen Denkmale verwechselte, wo liegt darin
die absichtliche Täuschung Fremder? Und wenn eine solche in diesem Falle
auch vorläge, wir konnten diesem einen Beispiele mühelos zehn andere "Selbst¬
täuschungen" entgegenstellen, die nicht auf Fremde berechnet sind, sondern die
Kunstfreunde der eigenen Nation in Schaden bringen. Wer hat nicht z. B.
von der schönen Klosterkirche zu Petershausen am Bodensee gelesen, deren
einzig erhaltener Portalbau schon vor vielen Jahren in einen großherzoglichen
Park bei Karlsruhe verpflanzt wurde. Wie viele suchten nicht, durch die An¬
gaben kunsthistorischer Handbücher verführt, den Kreuzgang S. Pantaleon auf,
und wie viele werden nicht noch in den nächsten Jahren zu Overbecks Fresco-
bild unterhalb AM pilgern, trotzdem, daß es schon vor drei Jahren durch ein
Erdbeben zu Grunde ging. Wir sehen in allem diesem nicht Gasconaden,
sondern einfach Mangel an Kritik und gedankenloses Nachschreiben veralteter
Notizen, wie es in der Literatur aller Völker angetroffen wird.

Die eben erwähnte und noch so manche andere Enttäuschung mag nicht
wenig zur Verbitterung des Urtheiles über die deutsche Kunst beigetragen
haben. Doch hat sie unserem Beobachter den Blick nicht so völlig getrübt, um
ihn der richtigen Würdigung deutscher Kunstzustände ganz unzugänglich zu
machen. Auch ihm tritt als der auffälligste Fehler deutscher Künstler das
"trop ä^ävös" entgegen, wodurch unsere besten Inspirationen erstickt und an
die Stelle einheitlicher Schöpfungen, mühselige Zusammensetzungen abstracter
Vorstellungen gerückt werden. Auch er fühlt, daß in den gebildeten Kreisen
Deutschlands die Kunstliebe mehr anerzogen und angelernt, als angeboren ist,
aus welchem Umstand erklärt werden kann, daß die übermäßige Mitwirkung
des Verstandes an künstlerischen Schöpfungen so wenig Anstoß erregt, im
Gegentheil grade solche, nicht der Region der Phantasie, sondern jener deö
grübelnden und zerlegenden Verstandes entstammende Kunstwerke aus den all¬
gemeinsten Beifall rechnen können. Es ist ein schneidend hartes Urtheil,
wenn Viollet-le-Duc die Kraft der Phantasie nicht zu den hervorragendsten
Eigenschaften deS deutschen Nationalcharakters zählt; ohne mannigfache Ein¬
schränkung kann man demselben auch nicht beipflichten. Wenn man aber die


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wol eines Umweges von einigen Tagereisen werth. Unsere Reisenden machen sich
auf den Weg, voll der größten Erwartungen, in jeder Stadt fragen sie nach den
gerühmten Schätzen, bei jedem Kunstfreunde, auf welchen sie stoßen, erkundigen
sie sich nach dem kostbaren Denkmale. Niemand widerlegt ihre Erwartungen,
aber niemand bestätigt auch dieselben. Ungeduldig langen sie endlich in Tegernsee
an, um — einem schlechten Kirchenbau aus dem vorigen Jahrhundert mit blanken
Fenstern ihre Ehrfurcht zu beweisen. Daß man in Paris eine schriftliche
Nachricht aus dem Ende des zehnten Jahrhunderts, ein Dankschreiben deS
Abtes Gozbert von Tegernsee an einen Grasen Arnold für ein Geschenk bunt¬
gemalter Fenster mit einem wirklichen Denkmale verwechselte, wo liegt darin
die absichtliche Täuschung Fremder? Und wenn eine solche in diesem Falle
auch vorläge, wir konnten diesem einen Beispiele mühelos zehn andere „Selbst¬
täuschungen" entgegenstellen, die nicht auf Fremde berechnet sind, sondern die
Kunstfreunde der eigenen Nation in Schaden bringen. Wer hat nicht z. B.
von der schönen Klosterkirche zu Petershausen am Bodensee gelesen, deren
einzig erhaltener Portalbau schon vor vielen Jahren in einen großherzoglichen
Park bei Karlsruhe verpflanzt wurde. Wie viele suchten nicht, durch die An¬
gaben kunsthistorischer Handbücher verführt, den Kreuzgang S. Pantaleon auf,
und wie viele werden nicht noch in den nächsten Jahren zu Overbecks Fresco-
bild unterhalb AM pilgern, trotzdem, daß es schon vor drei Jahren durch ein
Erdbeben zu Grunde ging. Wir sehen in allem diesem nicht Gasconaden,
sondern einfach Mangel an Kritik und gedankenloses Nachschreiben veralteter
Notizen, wie es in der Literatur aller Völker angetroffen wird.

Die eben erwähnte und noch so manche andere Enttäuschung mag nicht
wenig zur Verbitterung des Urtheiles über die deutsche Kunst beigetragen
haben. Doch hat sie unserem Beobachter den Blick nicht so völlig getrübt, um
ihn der richtigen Würdigung deutscher Kunstzustände ganz unzugänglich zu
machen. Auch ihm tritt als der auffälligste Fehler deutscher Künstler das
„trop ä^ävös" entgegen, wodurch unsere besten Inspirationen erstickt und an
die Stelle einheitlicher Schöpfungen, mühselige Zusammensetzungen abstracter
Vorstellungen gerückt werden. Auch er fühlt, daß in den gebildeten Kreisen
Deutschlands die Kunstliebe mehr anerzogen und angelernt, als angeboren ist,
aus welchem Umstand erklärt werden kann, daß die übermäßige Mitwirkung
des Verstandes an künstlerischen Schöpfungen so wenig Anstoß erregt, im
Gegentheil grade solche, nicht der Region der Phantasie, sondern jener deö
grübelnden und zerlegenden Verstandes entstammende Kunstwerke aus den all¬
gemeinsten Beifall rechnen können. Es ist ein schneidend hartes Urtheil,
wenn Viollet-le-Duc die Kraft der Phantasie nicht zu den hervorragendsten
Eigenschaften deS deutschen Nationalcharakters zählt; ohne mannigfache Ein¬
schränkung kann man demselben auch nicht beipflichten. Wenn man aber die


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[0153] wol eines Umweges von einigen Tagereisen werth. Unsere Reisenden machen sich auf den Weg, voll der größten Erwartungen, in jeder Stadt fragen sie nach den gerühmten Schätzen, bei jedem Kunstfreunde, auf welchen sie stoßen, erkundigen sie sich nach dem kostbaren Denkmale. Niemand widerlegt ihre Erwartungen, aber niemand bestätigt auch dieselben. Ungeduldig langen sie endlich in Tegernsee an, um — einem schlechten Kirchenbau aus dem vorigen Jahrhundert mit blanken Fenstern ihre Ehrfurcht zu beweisen. Daß man in Paris eine schriftliche Nachricht aus dem Ende des zehnten Jahrhunderts, ein Dankschreiben deS Abtes Gozbert von Tegernsee an einen Grasen Arnold für ein Geschenk bunt¬ gemalter Fenster mit einem wirklichen Denkmale verwechselte, wo liegt darin die absichtliche Täuschung Fremder? Und wenn eine solche in diesem Falle auch vorläge, wir konnten diesem einen Beispiele mühelos zehn andere „Selbst¬ täuschungen" entgegenstellen, die nicht auf Fremde berechnet sind, sondern die Kunstfreunde der eigenen Nation in Schaden bringen. Wer hat nicht z. B. von der schönen Klosterkirche zu Petershausen am Bodensee gelesen, deren einzig erhaltener Portalbau schon vor vielen Jahren in einen großherzoglichen Park bei Karlsruhe verpflanzt wurde. Wie viele suchten nicht, durch die An¬ gaben kunsthistorischer Handbücher verführt, den Kreuzgang S. Pantaleon auf, und wie viele werden nicht noch in den nächsten Jahren zu Overbecks Fresco- bild unterhalb AM pilgern, trotzdem, daß es schon vor drei Jahren durch ein Erdbeben zu Grunde ging. Wir sehen in allem diesem nicht Gasconaden, sondern einfach Mangel an Kritik und gedankenloses Nachschreiben veralteter Notizen, wie es in der Literatur aller Völker angetroffen wird. Die eben erwähnte und noch so manche andere Enttäuschung mag nicht wenig zur Verbitterung des Urtheiles über die deutsche Kunst beigetragen haben. Doch hat sie unserem Beobachter den Blick nicht so völlig getrübt, um ihn der richtigen Würdigung deutscher Kunstzustände ganz unzugänglich zu machen. Auch ihm tritt als der auffälligste Fehler deutscher Künstler das „trop ä^ävös" entgegen, wodurch unsere besten Inspirationen erstickt und an die Stelle einheitlicher Schöpfungen, mühselige Zusammensetzungen abstracter Vorstellungen gerückt werden. Auch er fühlt, daß in den gebildeten Kreisen Deutschlands die Kunstliebe mehr anerzogen und angelernt, als angeboren ist, aus welchem Umstand erklärt werden kann, daß die übermäßige Mitwirkung des Verstandes an künstlerischen Schöpfungen so wenig Anstoß erregt, im Gegentheil grade solche, nicht der Region der Phantasie, sondern jener deö grübelnden und zerlegenden Verstandes entstammende Kunstwerke aus den all¬ gemeinsten Beifall rechnen können. Es ist ein schneidend hartes Urtheil, wenn Viollet-le-Duc die Kraft der Phantasie nicht zu den hervorragendsten Eigenschaften deS deutschen Nationalcharakters zählt; ohne mannigfache Ein¬ schränkung kann man demselben auch nicht beipflichten. Wenn man aber die Grenzboten. III. ->8ö7. -19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/153>, abgerufen am 12.12.2024.