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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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tiker sich die nöthige Muse zur Betrachtung der Frescomalereien in der Glyp¬
tothek gegönnt und Gelegenheit gefunden, einzelne Cartons zu dem für das
berliner Lampo santo bestimmten Bilderschmucke zu studiren, sein Urtheil hätte
gewiß eine gänzliche Umkehrung erfahren, und er die Ueberzeugung gewonnen,
daß kein einziger französischer Idealist, auch nicht der allgefeierte Ingres wür¬
dig ist, mit dem deutschen Meister in demselben Athemzuge genannt zu werden.

Verletzter nationaler Stolz soll jedoch-uns nicht bestimmen, weil Viollet-
le-Duc in einem Punkte grob geirrt, vor seinen übrigen, oft das Schwärze-
treffenden Bemerkungen über die deutsche Kunst das Ohr zu schließen. Zwar,
wenn die der neudeutschen Kunst vorgeworfene Manicrirtheit, die Sucht zu
übertreiben, die größere Vorliebe für das staunenswerthe als für das Er¬
greifende, bis auf das zwölfte Jahrhundert zurückgeführt und die Wurzeln für
die von Cornelius eingeschlagene Richtung in den bekannten bamberger Portal-
sculpturen aufgesucht werden, so birgt sich darin ein Uebermaß deS Doktrinären,
welches eigentlich nur dem deutschen Kritiker gestattet ist. Oder wenn wir als
Ks,8con8 Ki-avss et röklLeuis charakterisiert werden, die wol dem Fremden gegen¬
über alles Landsmännische über die Wolken erheben, unter sich aber den
wahren Werth desselben ganz richtig schätzen, so beruht dies auf einer ober¬
flächlichen Anschauung, die nicht einmal die Mühe sich nimmt, aus den
eigenen Behauptungen die richtigen Folgerungen zu ziehen. Sind nämlich die
Mängel der modernen deutschen Kunst, seit dem tiefsten Mittelalter, wie
Viollet-le-Duc versichert, von Geschlecht auf Geschlecht vererbt worden, ent¬
springen sie, wie er annimmt, aus einer gewissen Beschränktheit der deutschen
Phantasie, so stehen wir ja denselben keineswegs unbefangen gegenüber. Um
sie als Mängel aufzufassen, müßten wir einen Act der Selbstprüfung vor¬
nehmen, wie ihn keine Nation, die sich nicht selbst aufgegeben, vollziehen kann;
um sie zu verdammen, müßten wir über uns selbst das Urtheil der Verdammung
sprechen, wie es kein Volk formuliren will. Weit entfernt, Fremden Sand in
die Augen streuen zu wollen, sind wir in ihrer Gegenwart verhältnißmäßig
schüchtern und verzagt und lassen erst unter uns dem Enthusiasmus für die
heimischen Kunstschöpfungen seinen Lauf. Mit scheinbar größerem Rechte könnte
man uns der falschen Bescheidenheit zeihen, als Prahlsucht vorwerfen, die, falls
wir sie besitzen, nothwendig von unseren überrheinischen Nachbarn entlehnt
sein muß. Die Gascogner sind ja Söhne Frankreichs. Das Erlebniß, das
Viollet-le-Duc zur Bekräftigung seiner Ansicht erzählt, ist amüsant genug, entbehrt
jedoch aller Beweiskraft. Der Verfasser und seine Reisegesellschaft hatten in
Paris von Glasmalereien in Tegernsee aus dem neunten Jahrhundert gehört.
Glasgemälde aus so entlegener Zeit, während man bis jetzt als die ältesten
deutschen Beispiele dieser Kunstgattung die Fenster im Schiffe des augsburger
Domes, wahrscheinlich aus dem zwölften Jahrhundert kannte -- das war wol


tiker sich die nöthige Muse zur Betrachtung der Frescomalereien in der Glyp¬
tothek gegönnt und Gelegenheit gefunden, einzelne Cartons zu dem für das
berliner Lampo santo bestimmten Bilderschmucke zu studiren, sein Urtheil hätte
gewiß eine gänzliche Umkehrung erfahren, und er die Ueberzeugung gewonnen,
daß kein einziger französischer Idealist, auch nicht der allgefeierte Ingres wür¬
dig ist, mit dem deutschen Meister in demselben Athemzuge genannt zu werden.

Verletzter nationaler Stolz soll jedoch-uns nicht bestimmen, weil Viollet-
le-Duc in einem Punkte grob geirrt, vor seinen übrigen, oft das Schwärze-
treffenden Bemerkungen über die deutsche Kunst das Ohr zu schließen. Zwar,
wenn die der neudeutschen Kunst vorgeworfene Manicrirtheit, die Sucht zu
übertreiben, die größere Vorliebe für das staunenswerthe als für das Er¬
greifende, bis auf das zwölfte Jahrhundert zurückgeführt und die Wurzeln für
die von Cornelius eingeschlagene Richtung in den bekannten bamberger Portal-
sculpturen aufgesucht werden, so birgt sich darin ein Uebermaß deS Doktrinären,
welches eigentlich nur dem deutschen Kritiker gestattet ist. Oder wenn wir als
Ks,8con8 Ki-avss et röklLeuis charakterisiert werden, die wol dem Fremden gegen¬
über alles Landsmännische über die Wolken erheben, unter sich aber den
wahren Werth desselben ganz richtig schätzen, so beruht dies auf einer ober¬
flächlichen Anschauung, die nicht einmal die Mühe sich nimmt, aus den
eigenen Behauptungen die richtigen Folgerungen zu ziehen. Sind nämlich die
Mängel der modernen deutschen Kunst, seit dem tiefsten Mittelalter, wie
Viollet-le-Duc versichert, von Geschlecht auf Geschlecht vererbt worden, ent¬
springen sie, wie er annimmt, aus einer gewissen Beschränktheit der deutschen
Phantasie, so stehen wir ja denselben keineswegs unbefangen gegenüber. Um
sie als Mängel aufzufassen, müßten wir einen Act der Selbstprüfung vor¬
nehmen, wie ihn keine Nation, die sich nicht selbst aufgegeben, vollziehen kann;
um sie zu verdammen, müßten wir über uns selbst das Urtheil der Verdammung
sprechen, wie es kein Volk formuliren will. Weit entfernt, Fremden Sand in
die Augen streuen zu wollen, sind wir in ihrer Gegenwart verhältnißmäßig
schüchtern und verzagt und lassen erst unter uns dem Enthusiasmus für die
heimischen Kunstschöpfungen seinen Lauf. Mit scheinbar größerem Rechte könnte
man uns der falschen Bescheidenheit zeihen, als Prahlsucht vorwerfen, die, falls
wir sie besitzen, nothwendig von unseren überrheinischen Nachbarn entlehnt
sein muß. Die Gascogner sind ja Söhne Frankreichs. Das Erlebniß, das
Viollet-le-Duc zur Bekräftigung seiner Ansicht erzählt, ist amüsant genug, entbehrt
jedoch aller Beweiskraft. Der Verfasser und seine Reisegesellschaft hatten in
Paris von Glasmalereien in Tegernsee aus dem neunten Jahrhundert gehört.
Glasgemälde aus so entlegener Zeit, während man bis jetzt als die ältesten
deutschen Beispiele dieser Kunstgattung die Fenster im Schiffe des augsburger
Domes, wahrscheinlich aus dem zwölften Jahrhundert kannte — das war wol


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[0152] tiker sich die nöthige Muse zur Betrachtung der Frescomalereien in der Glyp¬ tothek gegönnt und Gelegenheit gefunden, einzelne Cartons zu dem für das berliner Lampo santo bestimmten Bilderschmucke zu studiren, sein Urtheil hätte gewiß eine gänzliche Umkehrung erfahren, und er die Ueberzeugung gewonnen, daß kein einziger französischer Idealist, auch nicht der allgefeierte Ingres wür¬ dig ist, mit dem deutschen Meister in demselben Athemzuge genannt zu werden. Verletzter nationaler Stolz soll jedoch-uns nicht bestimmen, weil Viollet- le-Duc in einem Punkte grob geirrt, vor seinen übrigen, oft das Schwärze- treffenden Bemerkungen über die deutsche Kunst das Ohr zu schließen. Zwar, wenn die der neudeutschen Kunst vorgeworfene Manicrirtheit, die Sucht zu übertreiben, die größere Vorliebe für das staunenswerthe als für das Er¬ greifende, bis auf das zwölfte Jahrhundert zurückgeführt und die Wurzeln für die von Cornelius eingeschlagene Richtung in den bekannten bamberger Portal- sculpturen aufgesucht werden, so birgt sich darin ein Uebermaß deS Doktrinären, welches eigentlich nur dem deutschen Kritiker gestattet ist. Oder wenn wir als Ks,8con8 Ki-avss et röklLeuis charakterisiert werden, die wol dem Fremden gegen¬ über alles Landsmännische über die Wolken erheben, unter sich aber den wahren Werth desselben ganz richtig schätzen, so beruht dies auf einer ober¬ flächlichen Anschauung, die nicht einmal die Mühe sich nimmt, aus den eigenen Behauptungen die richtigen Folgerungen zu ziehen. Sind nämlich die Mängel der modernen deutschen Kunst, seit dem tiefsten Mittelalter, wie Viollet-le-Duc versichert, von Geschlecht auf Geschlecht vererbt worden, ent¬ springen sie, wie er annimmt, aus einer gewissen Beschränktheit der deutschen Phantasie, so stehen wir ja denselben keineswegs unbefangen gegenüber. Um sie als Mängel aufzufassen, müßten wir einen Act der Selbstprüfung vor¬ nehmen, wie ihn keine Nation, die sich nicht selbst aufgegeben, vollziehen kann; um sie zu verdammen, müßten wir über uns selbst das Urtheil der Verdammung sprechen, wie es kein Volk formuliren will. Weit entfernt, Fremden Sand in die Augen streuen zu wollen, sind wir in ihrer Gegenwart verhältnißmäßig schüchtern und verzagt und lassen erst unter uns dem Enthusiasmus für die heimischen Kunstschöpfungen seinen Lauf. Mit scheinbar größerem Rechte könnte man uns der falschen Bescheidenheit zeihen, als Prahlsucht vorwerfen, die, falls wir sie besitzen, nothwendig von unseren überrheinischen Nachbarn entlehnt sein muß. Die Gascogner sind ja Söhne Frankreichs. Das Erlebniß, das Viollet-le-Duc zur Bekräftigung seiner Ansicht erzählt, ist amüsant genug, entbehrt jedoch aller Beweiskraft. Der Verfasser und seine Reisegesellschaft hatten in Paris von Glasmalereien in Tegernsee aus dem neunten Jahrhundert gehört. Glasgemälde aus so entlegener Zeit, während man bis jetzt als die ältesten deutschen Beispiele dieser Kunstgattung die Fenster im Schiffe des augsburger Domes, wahrscheinlich aus dem zwölften Jahrhundert kannte — das war wol

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/152>, abgerufen am 22.07.2024.