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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Spitze der Welt. Das Urtheil eines Ausländers, der uns im Kreise der bil¬
denden Künste grade die liebsten Eigenschaften unseres Charakters, die Origi¬
nalität im Schaffen, die Kritik im Beurtheilen abspricht, kann unter solchen
Umständen schwerlich auf Zustimmung rechnen, und wird wahrscheinlich aus
der Unfähigkeit des Fremden, uns zu verstehen und zu würdigen, erklärt wer¬
den. Wäre dieser Mann einer jener gedankenlosen Touristen, wie sie, Dank
der erleichterten Eisenbahnverbindung, gegenwärtig immer häufiger diesseits des
Rheines sich zeigen, so könnte man sich bei dieser Erklärung beruhigen, jeden¬
falls über die Geringschätzung unseres Kunsttreibens sich leicht trösten. Hr.
V iollet-le.-Duc jedoch, der Verfasser der I^etres aärössLiZs ä'^llömgxnö g,
N. I^une, die im vorigen Jahre in der Lno^eloxvälö ä'arentteewre und seit¬
dem auch in einem besonderen Abdruck erschienen, ist eine Kunstnotabilität
ersten Ranges, dessen Nestaurcitionsarbeiten an der Kairite Cliapelle, an der
pariser Kathedrale und an der Abtei von Se. Denys einen wohlverdienten Ruf
erhalten haben und welcher als Kenner der mittelalterlichen Architektur schwer¬
lich von einem Zeitgenossen erreicht, gewiß nicht übertroffen wird. Aus dem
Munde eines solchen Mannes verdient selbst ein falsches Urtheil Beachtung,
und auch ein feindselig gefärbtes darf nicht, weil es unsere Vorurtheile ver¬
letzt, sofort bei Seite geworfen und mit bloßem Achselzucken beantwortet werden.

Viollet-le-Duch Schrift ist keineswegs eine systematische Darstellung deut¬
scher Kunstzustände. Was er uns bietet, sind zwanglos und gelegentlich hin¬
geworfene Bemerkungen, die ihm auf dem Wege durch Baden, Baiern, Tyrol
und Böhmen sich aufdrängen. In Baden fesseln ihn Eisenlohrs Eisenbahn¬
bauten. Und wir gestehen offenherzig, daß das denselben gespendete unein¬
geschränkte Lob nicht wenig dazu beigetragen hat, auch seinem tadelnden Ur¬
theile ein größeres Gewicht beizumessen. Wenn es gilt, die großen deutschen
Baukünstler der Gegenwart zu nennen, da schwebt stets nur Schinkels und
Klcnzes und Gärtners Name auf den Lippen. Die persönliche Bedeutung
dieser Männer soll nicht im Geringsten verkürzt werden, namentlich Schinkels
Thaten, seine bewunderungswürdige Kraft, sich loszureißen von allen ver¬
derblichen Einflüssen der Umgebung und frei zu der reinen idealen Höhe des
Griechenthumes sich zu erheben, verlangen den höchsten Preis. Maßgebend
jedoch sür die Entwicklung unseres architektonischen Formensinnes, volksthümlich
im besten Sinne deS Wortes ist weder der in die märkische Sandwüste ver¬
schlagene Heitere, noch seine Münchner Fachgenossen. Schinkels Werken mangelt
die unmittelbar lebendige Beziehung zu Land und Leuten, sie entwachsen
nicht naturgemäß und nothwendig dem Boden, auf welchen sie der Wille deS
Bauherrn gestellt hat, die ältere Münchner Architektur dagegen offenbart sich
nur allzuhäufig als ein prunkhastes äußeres Schaugerüste, als bloße Fayaden
ohne den entsprechenden constructiver Kern. Desto angenehmer wirken die


Spitze der Welt. Das Urtheil eines Ausländers, der uns im Kreise der bil¬
denden Künste grade die liebsten Eigenschaften unseres Charakters, die Origi¬
nalität im Schaffen, die Kritik im Beurtheilen abspricht, kann unter solchen
Umständen schwerlich auf Zustimmung rechnen, und wird wahrscheinlich aus
der Unfähigkeit des Fremden, uns zu verstehen und zu würdigen, erklärt wer¬
den. Wäre dieser Mann einer jener gedankenlosen Touristen, wie sie, Dank
der erleichterten Eisenbahnverbindung, gegenwärtig immer häufiger diesseits des
Rheines sich zeigen, so könnte man sich bei dieser Erklärung beruhigen, jeden¬
falls über die Geringschätzung unseres Kunsttreibens sich leicht trösten. Hr.
V iollet-le.-Duc jedoch, der Verfasser der I^etres aärössLiZs ä'^llömgxnö g,
N. I^une, die im vorigen Jahre in der Lno^eloxvälö ä'arentteewre und seit¬
dem auch in einem besonderen Abdruck erschienen, ist eine Kunstnotabilität
ersten Ranges, dessen Nestaurcitionsarbeiten an der Kairite Cliapelle, an der
pariser Kathedrale und an der Abtei von Se. Denys einen wohlverdienten Ruf
erhalten haben und welcher als Kenner der mittelalterlichen Architektur schwer¬
lich von einem Zeitgenossen erreicht, gewiß nicht übertroffen wird. Aus dem
Munde eines solchen Mannes verdient selbst ein falsches Urtheil Beachtung,
und auch ein feindselig gefärbtes darf nicht, weil es unsere Vorurtheile ver¬
letzt, sofort bei Seite geworfen und mit bloßem Achselzucken beantwortet werden.

Viollet-le-Duch Schrift ist keineswegs eine systematische Darstellung deut¬
scher Kunstzustände. Was er uns bietet, sind zwanglos und gelegentlich hin¬
geworfene Bemerkungen, die ihm auf dem Wege durch Baden, Baiern, Tyrol
und Böhmen sich aufdrängen. In Baden fesseln ihn Eisenlohrs Eisenbahn¬
bauten. Und wir gestehen offenherzig, daß das denselben gespendete unein¬
geschränkte Lob nicht wenig dazu beigetragen hat, auch seinem tadelnden Ur¬
theile ein größeres Gewicht beizumessen. Wenn es gilt, die großen deutschen
Baukünstler der Gegenwart zu nennen, da schwebt stets nur Schinkels und
Klcnzes und Gärtners Name auf den Lippen. Die persönliche Bedeutung
dieser Männer soll nicht im Geringsten verkürzt werden, namentlich Schinkels
Thaten, seine bewunderungswürdige Kraft, sich loszureißen von allen ver¬
derblichen Einflüssen der Umgebung und frei zu der reinen idealen Höhe des
Griechenthumes sich zu erheben, verlangen den höchsten Preis. Maßgebend
jedoch sür die Entwicklung unseres architektonischen Formensinnes, volksthümlich
im besten Sinne deS Wortes ist weder der in die märkische Sandwüste ver¬
schlagene Heitere, noch seine Münchner Fachgenossen. Schinkels Werken mangelt
die unmittelbar lebendige Beziehung zu Land und Leuten, sie entwachsen
nicht naturgemäß und nothwendig dem Boden, auf welchen sie der Wille deS
Bauherrn gestellt hat, die ältere Münchner Architektur dagegen offenbart sich
nur allzuhäufig als ein prunkhastes äußeres Schaugerüste, als bloße Fayaden
ohne den entsprechenden constructiver Kern. Desto angenehmer wirken die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/150>, abgerufen am 12.12.2024.