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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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der zweiten oder dritten aufstrebenden Generation angehört, so Luther, Goethe,
Schiller.

Diese allgemeinen Bemerkungen sollen die Gesichtspunkte angeben, unter
welchen hier Familienschicksale ans alter Zeit Interesse beanspruchen. Was im
Anfange deS 16. Jahrhunderts das Privatleben förderte und störte, hat ein
Anrecht auf unsere Theilnahme, nicht nur, wenn es uns alterthümlich und
fremdartig erscheint, sondern auch wo es den Verhältnissen der Gegenwart
genau entspricht.

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lag das Mittelalter mit
den Ansängen moderner Lebensformen in hartem Kampfe. Dicht neben dem
rohen Faustrecht steht schon der moderne Civilproceß nach römischem Recht mit
seinem Instanzenzug, den Advocatenkniffen, den langweiligen Formeln, aber
auch mit seiner unerbittlichen Logik, welche allmälig die Scheu und Achtung
vor dem Recht in die Seelen eines gewaltthätigen Geschlechts prägte. Dicht
neben den Ueberfällen adliger Räuber, welche die Landstraßen unsicher machen
und den Wohlstand des Bürgers mit zügelloser Frechheit brandschatzen, kann
man die Anfänge einer neuen und sehr modernen Polizei erkennen, die ersten
Verfolgungen wegen Preßvergehen. Während man in der Seele eines gescheidten
und Weltersahrenen Mannes eine Methode zu empfinden und zu denken erkennt,
welche zuweilen ganz unsrer Bildung anzugehören scheint, wird man mit Erstaunen
dieselbe Seele mit dem kindischen Glauben an Teufelswerke und Besessene er¬
füllt sehn. ES fehlen nicht ganz, Züge von der treuherzigen und naiven
Heiterkeit, welche daS Kinder- und Familienleben bei uns zu jeder Zeit be¬
wahrt hat, aber man wird nicht ohne Befremden sehn wie rauh, herb und
strenge im Ganzen die Pflicht geübt und daS Leben aufgefaßt wurde. Es
war ein hartes Geschlecht, welches sich damals im großen Streit tummelte,
heftig und egoistisch in seinen Forderungen, voll Haß und Nachsucht gegen
die Feinde, mit geringer Humanität, aber einem sehr starken Familiengefühl.
Den verwandten Mann zu vertreten in Recht und Unrecht, die Feinde der
Verwandtschaft auch zu den seinigen zu machen und durch Connerionen und
Nepotismus sein Fortkommen, sein Recht und seine Rache zu suchen, war
allgemein. Wir sind zwar gewöhnt anzunehmen, daß das einzelne Menschen¬
leben vor 300 Jahren weniger galt als jetzt, aber man wird doch in dem
alten Bericht mit Verwunderung lesen, wie leicht Gewalt und Blutthat den
Frieden einer Häuslichkeit stören konnte. In einer friedlichen Bürgerfamilie
wird der Großvater durch überlegten Mordanfall getödtet, der Vater wieder
ersticht in Nothwehr einen Andern, ein Sohn wird auf offner Landstraße von
Wegelagerern angefallen, er erlegt einen Räuber und wird von einem andern
bis zum Tode verwundet. -- Zuletzt endlich wird eS manchem von Interesse
sein zu erkennen, wie der trotzige und entschlossene Theologe, welcher damals


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der zweiten oder dritten aufstrebenden Generation angehört, so Luther, Goethe,
Schiller.

Diese allgemeinen Bemerkungen sollen die Gesichtspunkte angeben, unter
welchen hier Familienschicksale ans alter Zeit Interesse beanspruchen. Was im
Anfange deS 16. Jahrhunderts das Privatleben förderte und störte, hat ein
Anrecht auf unsere Theilnahme, nicht nur, wenn es uns alterthümlich und
fremdartig erscheint, sondern auch wo es den Verhältnissen der Gegenwart
genau entspricht.

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lag das Mittelalter mit
den Ansängen moderner Lebensformen in hartem Kampfe. Dicht neben dem
rohen Faustrecht steht schon der moderne Civilproceß nach römischem Recht mit
seinem Instanzenzug, den Advocatenkniffen, den langweiligen Formeln, aber
auch mit seiner unerbittlichen Logik, welche allmälig die Scheu und Achtung
vor dem Recht in die Seelen eines gewaltthätigen Geschlechts prägte. Dicht
neben den Ueberfällen adliger Räuber, welche die Landstraßen unsicher machen
und den Wohlstand des Bürgers mit zügelloser Frechheit brandschatzen, kann
man die Anfänge einer neuen und sehr modernen Polizei erkennen, die ersten
Verfolgungen wegen Preßvergehen. Während man in der Seele eines gescheidten
und Weltersahrenen Mannes eine Methode zu empfinden und zu denken erkennt,
welche zuweilen ganz unsrer Bildung anzugehören scheint, wird man mit Erstaunen
dieselbe Seele mit dem kindischen Glauben an Teufelswerke und Besessene er¬
füllt sehn. ES fehlen nicht ganz, Züge von der treuherzigen und naiven
Heiterkeit, welche daS Kinder- und Familienleben bei uns zu jeder Zeit be¬
wahrt hat, aber man wird nicht ohne Befremden sehn wie rauh, herb und
strenge im Ganzen die Pflicht geübt und daS Leben aufgefaßt wurde. Es
war ein hartes Geschlecht, welches sich damals im großen Streit tummelte,
heftig und egoistisch in seinen Forderungen, voll Haß und Nachsucht gegen
die Feinde, mit geringer Humanität, aber einem sehr starken Familiengefühl.
Den verwandten Mann zu vertreten in Recht und Unrecht, die Feinde der
Verwandtschaft auch zu den seinigen zu machen und durch Connerionen und
Nepotismus sein Fortkommen, sein Recht und seine Rache zu suchen, war
allgemein. Wir sind zwar gewöhnt anzunehmen, daß das einzelne Menschen¬
leben vor 300 Jahren weniger galt als jetzt, aber man wird doch in dem
alten Bericht mit Verwunderung lesen, wie leicht Gewalt und Blutthat den
Frieden einer Häuslichkeit stören konnte. In einer friedlichen Bürgerfamilie
wird der Großvater durch überlegten Mordanfall getödtet, der Vater wieder
ersticht in Nothwehr einen Andern, ein Sohn wird auf offner Landstraße von
Wegelagerern angefallen, er erlegt einen Räuber und wird von einem andern
bis zum Tode verwundet. — Zuletzt endlich wird eS manchem von Interesse
sein zu erkennen, wie der trotzige und entschlossene Theologe, welcher damals


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/11>, abgerufen am 22.07.2024.