Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.bald zu dem bleichen Antlitz von Golgatha. "O Christus, ich gehöre nicht Wenn in diesen Bildern, wie in seiner socialen Stellung A. de Musset bald zu dem bleichen Antlitz von Golgatha. „O Christus, ich gehöre nicht Wenn in diesen Bildern, wie in seiner socialen Stellung A. de Musset <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0432" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104099"/> <p xml:id="ID_1219" prev="#ID_1218"> bald zu dem bleichen Antlitz von Golgatha. „O Christus, ich gehöre nicht<lb/> zu denen, welche daS Gebet in Deinen stummen Tempel mit zitternden Schritten<lb/> führt, die zu Deiner Schädelstätte wallfahrten, um Deine blutenden Füße zu<lb/> küssen; ich stehe aufrecht in Deinen heiligen Hallen, wenn Dein treues Volk<lb/> sich murmelnd unter dem Lufthauch der Hymnen beugt, wie Schilf im Nord¬<lb/> wind; ich glaube nicht, o Christus, an Dein heiliges Wort, ich bin zu spät<lb/> in eine zu alte Welt gekommen, aus einem Jahrhundert ohne Hoffnung geht<lb/> ein Jahrhundert ohne Furcht hervor; die Kometen des unsrigen haben die<lb/> Himmel entvölkert. Jetzt treibt der Zufall die von ihren Träumen aufgeweckten<lb/> Welten schattengleich vor sich her; der Geist der Vergangenheit, auf ihren<lb/> Trümmern umherirrend, stürzt Deine verstümmelten Engel in den ewigen Ab¬<lb/> grund; kaum halten Dich noch die Nägel am Kreuze fest; Dein Ruhm ist<lb/> todt, und aus unserm Kreuz von Ebenholz ist Dein himmlischer Leichnam in<lb/> Staub verfallen. Aber dennoch muß das ungläubigste Kind dieses glauben¬<lb/> losen Jahrhunderts den Staub küssen, und weinen auf dieser kalten Erde, die<lb/> von Deinem Tod lebte, und die ohne Dich sterben wirb. Wer soll ihr jetzt<lb/> das Leben wiedergeben? Mit Deinem reinsten Blut hast Du sie verjüngt;<lb/> wer soll uns verjüngen, uns Greise von gestern?" — Aus solche und ähnliche<lb/> poetische Ausbrüche folgen dann sofort jene Scenen des Verbrechens, deS<lb/> Lasters und des Schmuzes, welche die andere Seite des Bildes ausmachen.<lb/> Je elender die Welt ist, desto mehr wird sie sich nach Christus sehnen. Diesem<lb/> haltlosen Geist der Romantik gegenüber muß man sehr ernsthaft ein großes<lb/> Zeitalter in Schutz nehmen, welches zwar auch frivol war, aber nur gegen<lb/> das Lächerliche, auch ungläubig, aber nur gegen das, was dem Verstand und<lb/> dem Herzen widersprach, und welches in seiner anscheinenden heitern Leicht¬<lb/> fertigkeit mehr ernstes Nachdenken und mehr wahres Gefühl verbarg, als dieser<lb/> moderne heidnische Pietismus, der erst lästern, sündigen und fluchen muß,<lb/> ehe er sich der süßen Thränen einer grenzenlosen Reue und Sehnsucht erfreut.</p><lb/> <p xml:id="ID_1220" next="#ID_1221"> Wenn in diesen Bildern, wie in seiner socialen Stellung A. de Musset<lb/> als Jünger der Romantik auftritt, so durchschaut er doch ihre Schwächen-<lb/> Vom September 1836 an erschien in der Revue des deur mondes eine Reihe<lb/> anonymer Briefe über die Thorheiten der Zeit. Die Einsender beklagten sich,<lb/> daß sie so viel über den Begriff der Romantik gehört, ohne genau erfahren<lb/> zu können, was sie eigentlich heiße; es sei ihnen um so unbequemer, da ro¬<lb/> mantisch l>c>maruzsiu6) in der Provinz ungefähr so viel sagen wollte, als ab¬<lb/> surd. Die aufeinanderfolgenden Manifeste der Schule hätten sie nicht klüger<lb/> gemacht. Zuerst hätten sie geglaubt, eS handle sich nur um den Sturz der<lb/> drei aristotelischen Einheiten im Theater; dann habe man sie belehrt, Roman¬<lb/> tik sei die Vermischung des Tragischen und deS Komischen, dann, sie sei eine<lb/> Nachbildung der deutschen, englischen und spanischen Dichter im Gegensatz</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0432]
bald zu dem bleichen Antlitz von Golgatha. „O Christus, ich gehöre nicht
zu denen, welche daS Gebet in Deinen stummen Tempel mit zitternden Schritten
führt, die zu Deiner Schädelstätte wallfahrten, um Deine blutenden Füße zu
küssen; ich stehe aufrecht in Deinen heiligen Hallen, wenn Dein treues Volk
sich murmelnd unter dem Lufthauch der Hymnen beugt, wie Schilf im Nord¬
wind; ich glaube nicht, o Christus, an Dein heiliges Wort, ich bin zu spät
in eine zu alte Welt gekommen, aus einem Jahrhundert ohne Hoffnung geht
ein Jahrhundert ohne Furcht hervor; die Kometen des unsrigen haben die
Himmel entvölkert. Jetzt treibt der Zufall die von ihren Träumen aufgeweckten
Welten schattengleich vor sich her; der Geist der Vergangenheit, auf ihren
Trümmern umherirrend, stürzt Deine verstümmelten Engel in den ewigen Ab¬
grund; kaum halten Dich noch die Nägel am Kreuze fest; Dein Ruhm ist
todt, und aus unserm Kreuz von Ebenholz ist Dein himmlischer Leichnam in
Staub verfallen. Aber dennoch muß das ungläubigste Kind dieses glauben¬
losen Jahrhunderts den Staub küssen, und weinen auf dieser kalten Erde, die
von Deinem Tod lebte, und die ohne Dich sterben wirb. Wer soll ihr jetzt
das Leben wiedergeben? Mit Deinem reinsten Blut hast Du sie verjüngt;
wer soll uns verjüngen, uns Greise von gestern?" — Aus solche und ähnliche
poetische Ausbrüche folgen dann sofort jene Scenen des Verbrechens, deS
Lasters und des Schmuzes, welche die andere Seite des Bildes ausmachen.
Je elender die Welt ist, desto mehr wird sie sich nach Christus sehnen. Diesem
haltlosen Geist der Romantik gegenüber muß man sehr ernsthaft ein großes
Zeitalter in Schutz nehmen, welches zwar auch frivol war, aber nur gegen
das Lächerliche, auch ungläubig, aber nur gegen das, was dem Verstand und
dem Herzen widersprach, und welches in seiner anscheinenden heitern Leicht¬
fertigkeit mehr ernstes Nachdenken und mehr wahres Gefühl verbarg, als dieser
moderne heidnische Pietismus, der erst lästern, sündigen und fluchen muß,
ehe er sich der süßen Thränen einer grenzenlosen Reue und Sehnsucht erfreut.
Wenn in diesen Bildern, wie in seiner socialen Stellung A. de Musset
als Jünger der Romantik auftritt, so durchschaut er doch ihre Schwächen-
Vom September 1836 an erschien in der Revue des deur mondes eine Reihe
anonymer Briefe über die Thorheiten der Zeit. Die Einsender beklagten sich,
daß sie so viel über den Begriff der Romantik gehört, ohne genau erfahren
zu können, was sie eigentlich heiße; es sei ihnen um so unbequemer, da ro¬
mantisch l>c>maruzsiu6) in der Provinz ungefähr so viel sagen wollte, als ab¬
surd. Die aufeinanderfolgenden Manifeste der Schule hätten sie nicht klüger
gemacht. Zuerst hätten sie geglaubt, eS handle sich nur um den Sturz der
drei aristotelischen Einheiten im Theater; dann habe man sie belehrt, Roman¬
tik sei die Vermischung des Tragischen und deS Komischen, dann, sie sei eine
Nachbildung der deutschen, englischen und spanischen Dichter im Gegensatz
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