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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Ober wenn er einmal Frankreich mit der aus dem Grabe aufsteigenden Ju-
liette vergleicht:


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Aber grade die Stellen ausschweifender Lustigkeit machen einen frostigen, un¬
heimlichen Eindruck. An Zweifeln und Verzweiflung wetteifert er mit dem
alten Hamlet; er glaubt nicht an das Gute und Wahre, und doch sehnt er
sich, zu glauben. Die Blasirtheit, die er zuweilen zur Schau trägt, als ob
sie etwas Schönes wäre, beruht nicht auf dem Unglauben an das Wesen des
Ideals überhaupt, aber auch nicht blos auf dem vermeintlichen Widerspruch
zwischen diesem Ideal und der Wirklichkeit, sondern auf dem Widerspruch
zwischen seinen verschiedenen Idealen. In dieser unklaren Stimmung
ist er geneigt, die großen Schriftsteller der Aufklärung anzuklagen, als hätten
sie ihm die Sicherheit seines Denkens und Empfindens geraubt, in demselben
Augenblick, wo er sie an Frechheit und Frivolität um das Hundertfache über¬
bietet. So hat er einmal eine recht scheußliche Scene geschildert, und zwar
mit Behagen, da bricht er plötzlich gegen Voltaire los: "Bist Du zufrieden
in Deinem Schlaf, Voltaire, und schwebt Dein häßliches Lächeln über Deinen
entfleischten Knochen? Dein Jahrhundert, sagt man, war zu jung, um Dich
Zu verstehen; das unsrige muß Dir gefallen, Deine Zeit ist gekommen. Es
ist eingestürzt auf uns, dieses erhabene Gebäude, welches Du mit Deinen
breiten Händen Tag und Nacht unterwühltest. Mit Ungeduld mußte Dich
der Tod erwarten, um den Du achtzig Jahre hindurch mit teuflischer Liebe
buhltest. Verlässest Du niemals das HochzeitSbett, auf dem Du die Würmer
des Grabes umarmst, um mit Deiner bleichen Stirn ein verlassenes Kloster
oder ein altes Schloß heimzusuchen? Was sagen Dir alsdann diese gewaltigen
Leichname, diese schweigenden Mauern und diese verwüsteten Altäre, welche
Dein Athem für die Ewigkeit entvölkert hat? Was sagt Dir das Kreuz, waS
sagt Dir der Messias? Bindet er noch, wenn Dein nächtliches Gespenst an
seinem zitternden Stamm rüttelt, um ihn herabzureißen wie eine kranke
Blume?" -- Er sehnt sich nach einer Religion. Gern möchte er nach der
Weise Epikurö das Leben der Freude leben, aber "er kann eS nicht, das Un¬
endliche macht ihm Qual, er kann nicht daran denken ohne Furcht und ohne
Hoffnung; seine Vernunft entsetzt sich, es nicht zu begreifen und es dennoch
in sehen." Er wirst sich vor den Altären nieder, nicht um einen bestimmten
Gegenstand anzubeten, sondern um seinem zu schweren Haupt eine Stütze zu
Leben. Er flüchtet mit einer unnennbaren Angst bald zu den heitern Götter-
Schalten des Olymp (die er übrigens in Nolla mit wirklicher Poesie schildert),


Ober wenn er einmal Frankreich mit der aus dem Grabe aufsteigenden Ju-
liette vergleicht:


tlomi röveillöe it clemi moribonclo,
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Aber grade die Stellen ausschweifender Lustigkeit machen einen frostigen, un¬
heimlichen Eindruck. An Zweifeln und Verzweiflung wetteifert er mit dem
alten Hamlet; er glaubt nicht an das Gute und Wahre, und doch sehnt er
sich, zu glauben. Die Blasirtheit, die er zuweilen zur Schau trägt, als ob
sie etwas Schönes wäre, beruht nicht auf dem Unglauben an das Wesen des
Ideals überhaupt, aber auch nicht blos auf dem vermeintlichen Widerspruch
zwischen diesem Ideal und der Wirklichkeit, sondern auf dem Widerspruch
zwischen seinen verschiedenen Idealen. In dieser unklaren Stimmung
ist er geneigt, die großen Schriftsteller der Aufklärung anzuklagen, als hätten
sie ihm die Sicherheit seines Denkens und Empfindens geraubt, in demselben
Augenblick, wo er sie an Frechheit und Frivolität um das Hundertfache über¬
bietet. So hat er einmal eine recht scheußliche Scene geschildert, und zwar
mit Behagen, da bricht er plötzlich gegen Voltaire los: „Bist Du zufrieden
in Deinem Schlaf, Voltaire, und schwebt Dein häßliches Lächeln über Deinen
entfleischten Knochen? Dein Jahrhundert, sagt man, war zu jung, um Dich
Zu verstehen; das unsrige muß Dir gefallen, Deine Zeit ist gekommen. Es
ist eingestürzt auf uns, dieses erhabene Gebäude, welches Du mit Deinen
breiten Händen Tag und Nacht unterwühltest. Mit Ungeduld mußte Dich
der Tod erwarten, um den Du achtzig Jahre hindurch mit teuflischer Liebe
buhltest. Verlässest Du niemals das HochzeitSbett, auf dem Du die Würmer
des Grabes umarmst, um mit Deiner bleichen Stirn ein verlassenes Kloster
oder ein altes Schloß heimzusuchen? Was sagen Dir alsdann diese gewaltigen
Leichname, diese schweigenden Mauern und diese verwüsteten Altäre, welche
Dein Athem für die Ewigkeit entvölkert hat? Was sagt Dir das Kreuz, waS
sagt Dir der Messias? Bindet er noch, wenn Dein nächtliches Gespenst an
seinem zitternden Stamm rüttelt, um ihn herabzureißen wie eine kranke
Blume?" — Er sehnt sich nach einer Religion. Gern möchte er nach der
Weise Epikurö das Leben der Freude leben, aber „er kann eS nicht, das Un¬
endliche macht ihm Qual, er kann nicht daran denken ohne Furcht und ohne
Hoffnung; seine Vernunft entsetzt sich, es nicht zu begreifen und es dennoch
in sehen." Er wirst sich vor den Altären nieder, nicht um einen bestimmten
Gegenstand anzubeten, sondern um seinem zu schweren Haupt eine Stütze zu
Leben. Er flüchtet mit einer unnennbaren Angst bald zu den heitern Götter-
Schalten des Olymp (die er übrigens in Nolla mit wirklicher Poesie schildert),


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/431>, abgerufen am 28.07.2024.