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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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zu Hause recht wohl, und zu Hause war er im vollsten Sinn des Worts.
Jeder Einzelne seiner Gemeinde war ihm bekannt und vertraut, alle wurden
durch den Segen seines guten Beispiels und seiner Lehre gefördert. Was
seine Religion betrifft, so stand er fest auf dem Grund der Bibel, auf dem
sein ganzes Volk aufgewachsen war; aber er entnahm diesem heiligen, so
mannigfaltig gedeuteten Buch nur die Lehren der Gerechtigkeit und Barm¬
herzigkeit. Der Glaube, auf den er dringt, ist ein bescheidener und wirk¬
samer; er soll sich stets verkünden durch das Leben, durch die stete innere
Umgestaltung desselben, durch Treue, Muth, Geduld und Kraft, die dem Bösen
widerstreitet und den Wechsel der Tage zu ertragen weiß. Er wird für die
andern nur sichtbar durch ein ganz der nächsten Pflicht geweihtes Leben.
"Wie fromm er war," sagt er von einem alten Pfarrer, "wußte Gott, die
Menschen hätten es ihm nicht angesehen." "Der Glaube, den ich habe, ist
nicht der Glaube jener Sekte, die den Tisch deckte, sich daran setzte, betete, in
der Meinung, der liebe Gott werde das Essen in schönen Schüsseln wohlgekocht
auf den Tisch fallen lassen, sondern mein Glaube ist der, daß Gott nichts
thut, wozu er mir die Kräfte gegeben hat, daß ich diese Kräfte anzustrengen
habe nach Vermögen und Gewissen, und zwar ohne Gewißheit haben zu
wollen, ob ich das Erstrebte damit ausrichte oder nicht, sondern in aller
Demuth Gott das Gedeihen überlassend. Der Mensch soll säen, aber in
Gottes Hand steht die Ernte. Ueber das, was ich thue, bin ich verantwortlich;
was ich wirke, waltet Gott. Wo der Mensch das Gute will, soll er handeln,
den Erfolg aber Gott überlassen. Das Christenthum enthält durchaus kein
Element, das die natürliche Trägheit der Menschen begünstigt, sondern grade
die stärksten Reizmittel, alle Kräfte in Thätigkeit zu setzen." -- Nur die Zer¬
fahrenheit eines durch sophistische Bildung oder durch pietistische Grübelei aus¬
gehöhlten Gemüths kann sich gegen diesen Glauben auflehnen. Auf die so¬
genannte gelehrte Theologie läßt sich Bitzius gar nicht ein. Er dogmatisirt
nicht und streitet nicht über Glaubenssätze;'dagegen war es ihm mit der Kirche
sehr ernst, da für ihn die Kirche das Vereinigende, das der Sittlichkeit zu
Grunde Liegende, Bleibende darstellt, während der Pietismus und die
Sektirerei den Menschen isolirt, ihn zu unfruchtbarer Selbstbetrachtung ver¬
leitet. Er fand in der Kirche mit ihrer strengen Zucht und Ordnung noch
Lebenskraft genug, und betrachtete allen Separatismus als die Zersetzung
eines sittlichen Ganzen. Auch darin kommt er mit Dickens überein, wie in
seiner Verachtung deS Pharisäerthums, das sich in Phrasen befriedigt.

Was nun den Schriftsteller betrifft, so muß man, um gegen ihn gerecht
in sein, Folgendes erwägen. Der deutsche Schweizer, der als deutscher
Schriftsteller auftritt, hat von vorn herein mit dem nachtheiligen Umstand zu
kämpfen, daß seine Schriftsprache nicht zugleich seine Redesprache ist. Er


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zu Hause recht wohl, und zu Hause war er im vollsten Sinn des Worts.
Jeder Einzelne seiner Gemeinde war ihm bekannt und vertraut, alle wurden
durch den Segen seines guten Beispiels und seiner Lehre gefördert. Was
seine Religion betrifft, so stand er fest auf dem Grund der Bibel, auf dem
sein ganzes Volk aufgewachsen war; aber er entnahm diesem heiligen, so
mannigfaltig gedeuteten Buch nur die Lehren der Gerechtigkeit und Barm¬
herzigkeit. Der Glaube, auf den er dringt, ist ein bescheidener und wirk¬
samer; er soll sich stets verkünden durch das Leben, durch die stete innere
Umgestaltung desselben, durch Treue, Muth, Geduld und Kraft, die dem Bösen
widerstreitet und den Wechsel der Tage zu ertragen weiß. Er wird für die
andern nur sichtbar durch ein ganz der nächsten Pflicht geweihtes Leben.
„Wie fromm er war," sagt er von einem alten Pfarrer, „wußte Gott, die
Menschen hätten es ihm nicht angesehen." „Der Glaube, den ich habe, ist
nicht der Glaube jener Sekte, die den Tisch deckte, sich daran setzte, betete, in
der Meinung, der liebe Gott werde das Essen in schönen Schüsseln wohlgekocht
auf den Tisch fallen lassen, sondern mein Glaube ist der, daß Gott nichts
thut, wozu er mir die Kräfte gegeben hat, daß ich diese Kräfte anzustrengen
habe nach Vermögen und Gewissen, und zwar ohne Gewißheit haben zu
wollen, ob ich das Erstrebte damit ausrichte oder nicht, sondern in aller
Demuth Gott das Gedeihen überlassend. Der Mensch soll säen, aber in
Gottes Hand steht die Ernte. Ueber das, was ich thue, bin ich verantwortlich;
was ich wirke, waltet Gott. Wo der Mensch das Gute will, soll er handeln,
den Erfolg aber Gott überlassen. Das Christenthum enthält durchaus kein
Element, das die natürliche Trägheit der Menschen begünstigt, sondern grade
die stärksten Reizmittel, alle Kräfte in Thätigkeit zu setzen." — Nur die Zer¬
fahrenheit eines durch sophistische Bildung oder durch pietistische Grübelei aus¬
gehöhlten Gemüths kann sich gegen diesen Glauben auflehnen. Auf die so¬
genannte gelehrte Theologie läßt sich Bitzius gar nicht ein. Er dogmatisirt
nicht und streitet nicht über Glaubenssätze;'dagegen war es ihm mit der Kirche
sehr ernst, da für ihn die Kirche das Vereinigende, das der Sittlichkeit zu
Grunde Liegende, Bleibende darstellt, während der Pietismus und die
Sektirerei den Menschen isolirt, ihn zu unfruchtbarer Selbstbetrachtung ver¬
leitet. Er fand in der Kirche mit ihrer strengen Zucht und Ordnung noch
Lebenskraft genug, und betrachtete allen Separatismus als die Zersetzung
eines sittlichen Ganzen. Auch darin kommt er mit Dickens überein, wie in
seiner Verachtung deS Pharisäerthums, das sich in Phrasen befriedigt.

Was nun den Schriftsteller betrifft, so muß man, um gegen ihn gerecht
in sein, Folgendes erwägen. Der deutsche Schweizer, der als deutscher
Schriftsteller auftritt, hat von vorn herein mit dem nachtheiligen Umstand zu
kämpfen, daß seine Schriftsprache nicht zugleich seine Redesprache ist. Er


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[0387] zu Hause recht wohl, und zu Hause war er im vollsten Sinn des Worts. Jeder Einzelne seiner Gemeinde war ihm bekannt und vertraut, alle wurden durch den Segen seines guten Beispiels und seiner Lehre gefördert. Was seine Religion betrifft, so stand er fest auf dem Grund der Bibel, auf dem sein ganzes Volk aufgewachsen war; aber er entnahm diesem heiligen, so mannigfaltig gedeuteten Buch nur die Lehren der Gerechtigkeit und Barm¬ herzigkeit. Der Glaube, auf den er dringt, ist ein bescheidener und wirk¬ samer; er soll sich stets verkünden durch das Leben, durch die stete innere Umgestaltung desselben, durch Treue, Muth, Geduld und Kraft, die dem Bösen widerstreitet und den Wechsel der Tage zu ertragen weiß. Er wird für die andern nur sichtbar durch ein ganz der nächsten Pflicht geweihtes Leben. „Wie fromm er war," sagt er von einem alten Pfarrer, „wußte Gott, die Menschen hätten es ihm nicht angesehen." „Der Glaube, den ich habe, ist nicht der Glaube jener Sekte, die den Tisch deckte, sich daran setzte, betete, in der Meinung, der liebe Gott werde das Essen in schönen Schüsseln wohlgekocht auf den Tisch fallen lassen, sondern mein Glaube ist der, daß Gott nichts thut, wozu er mir die Kräfte gegeben hat, daß ich diese Kräfte anzustrengen habe nach Vermögen und Gewissen, und zwar ohne Gewißheit haben zu wollen, ob ich das Erstrebte damit ausrichte oder nicht, sondern in aller Demuth Gott das Gedeihen überlassend. Der Mensch soll säen, aber in Gottes Hand steht die Ernte. Ueber das, was ich thue, bin ich verantwortlich; was ich wirke, waltet Gott. Wo der Mensch das Gute will, soll er handeln, den Erfolg aber Gott überlassen. Das Christenthum enthält durchaus kein Element, das die natürliche Trägheit der Menschen begünstigt, sondern grade die stärksten Reizmittel, alle Kräfte in Thätigkeit zu setzen." — Nur die Zer¬ fahrenheit eines durch sophistische Bildung oder durch pietistische Grübelei aus¬ gehöhlten Gemüths kann sich gegen diesen Glauben auflehnen. Auf die so¬ genannte gelehrte Theologie läßt sich Bitzius gar nicht ein. Er dogmatisirt nicht und streitet nicht über Glaubenssätze;'dagegen war es ihm mit der Kirche sehr ernst, da für ihn die Kirche das Vereinigende, das der Sittlichkeit zu Grunde Liegende, Bleibende darstellt, während der Pietismus und die Sektirerei den Menschen isolirt, ihn zu unfruchtbarer Selbstbetrachtung ver¬ leitet. Er fand in der Kirche mit ihrer strengen Zucht und Ordnung noch Lebenskraft genug, und betrachtete allen Separatismus als die Zersetzung eines sittlichen Ganzen. Auch darin kommt er mit Dickens überein, wie in seiner Verachtung deS Pharisäerthums, das sich in Phrasen befriedigt. Was nun den Schriftsteller betrifft, so muß man, um gegen ihn gerecht in sein, Folgendes erwägen. Der deutsche Schweizer, der als deutscher Schriftsteller auftritt, hat von vorn herein mit dem nachtheiligen Umstand zu kämpfen, daß seine Schriftsprache nicht zugleich seine Redesprache ist. Er 48*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/387>, abgerufen am 28.07.2024.