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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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ziemlich sauer, noch Manchem offen steht, der ihn blos aus Trägheit ver"
säumt. Die Fortsetzung der Geschichte, welche 1849 erschien, steht trotz ihres
Reichthums an lebensvollen Figuren dem Anfang nach.

Die Bilder und Sagen (1842--1844) gehören zu den schwächern Schriften
Gotthelss; man vermißt die gründlichen historischen Vorstudien, und in
einigen Erzählungen, namentlich der schwarzen Spinne, zeigt sich eine un¬
erfreuliche Neigung für düstere Farben. Desto gelungener ist in dieser Samm¬
lung die größere Erzählung: Geld und Geist, sowol wegen der prachtvollen
Darstellung des patriarchalischen Bauernhauses, das hier in seiner SonntagS-
seite auftritt, als in seiner psychologischen Analyse. Ein glücklicher, auf gegen¬
seitigem Vertrauen scheinbar fest ruhender Zustand, ein, wie man glauben
sollte, auf die Dauer gesichertes Verhältniß zwischen wackern Eheleuten geräth
plötzlich aus eine abschüssige Bahn, und wird, ohne daß bedeutende Fehler
oder große Leidenschaften zu Tage träten, unbemerkt nach einer gefährlichen
Tiefe gezogen. DaS Glück des Hauses droht zu scheitern, wenn nicht eine
innerliche Kraftanstrengung Rettung bringt, die in Zwiespalt verstrickten Ge¬
müther noch rechtzeitig zum Frieden zurückführt. In der äußerlichen Moti-
virung der Begebenheiten hat es Gotthelf dies Mal leichter genommen als ge¬
wöhnlich; dagegen wird man auch durch keine zum Stoff nicht gehörigen
Politischen Anspielungen gestört.

Eine GelegenheitSschrift war wieder oaS 1843 -- 1844 erschienene Werk:
"Wie Anne Bahl Jowäger haushaltet und wie eS ihm mit dem Doctern geht."
Gotthelf schien in seinen Lebensschilderungen sämmtliche Stände erschöpfen zu
wollen; doch ist sein Verhältniß zum Arzt weniger innerlich, als das zum
Pfarrer, Schulmeister und Bauer. Sehr interessant ist die Schilderung des
guten Arztes, dem die höhere Freude der Religion abgeht, der aber doch in
der Erfüllung seiner Pflicht trotz der bittersten Erfahrungen Trost findet. Auf
diesen Gegensatz des edlen Menschen, der kein Orthodoxer ist, gegen den recht¬
gläubigen und selbstgerechten Egoisten hat BitziuS offenbar großes Gewicht
gelegt, wie er denn überall die Treue in dem einem jeden gewordenen Beruf
über alles setzt, und von dem Satze nicht abläßt, daß nur an den Früchten
der Baum zu erkennen sei. -- Der Kalender, den er 1840 -- 1843 herausgab,
ist zu sehr unter der Stimmung der herrschenden Zeitwirren geschrieben, als
daß er für einen draußen Stehenden ein bleibendes Interesse erregen könnte.
Desto bedeutender ist das düstere Gemälde: Der Geltstag, oder die
Wirthschaft nach der neuen Mode (1846). "Dies Buch," sagt Gotthelf,
"zeichnet die traurigste Seite unseres Volkslebens, das Wirthshausleben, haupt¬
sächlich der Wirthsleute, theilweise auch das der Gäste. In solchen Nestern
"ut von solchen Leuten wird die Aufregung in unserem Vaterlande erzeugt
und erhalten. Hier entstehen die politische" Ansichten und Richtungen, und


Grenzboten. II. 18Ü7. 48

ziemlich sauer, noch Manchem offen steht, der ihn blos aus Trägheit ver»
säumt. Die Fortsetzung der Geschichte, welche 1849 erschien, steht trotz ihres
Reichthums an lebensvollen Figuren dem Anfang nach.

Die Bilder und Sagen (1842—1844) gehören zu den schwächern Schriften
Gotthelss; man vermißt die gründlichen historischen Vorstudien, und in
einigen Erzählungen, namentlich der schwarzen Spinne, zeigt sich eine un¬
erfreuliche Neigung für düstere Farben. Desto gelungener ist in dieser Samm¬
lung die größere Erzählung: Geld und Geist, sowol wegen der prachtvollen
Darstellung des patriarchalischen Bauernhauses, das hier in seiner SonntagS-
seite auftritt, als in seiner psychologischen Analyse. Ein glücklicher, auf gegen¬
seitigem Vertrauen scheinbar fest ruhender Zustand, ein, wie man glauben
sollte, auf die Dauer gesichertes Verhältniß zwischen wackern Eheleuten geräth
plötzlich aus eine abschüssige Bahn, und wird, ohne daß bedeutende Fehler
oder große Leidenschaften zu Tage träten, unbemerkt nach einer gefährlichen
Tiefe gezogen. DaS Glück des Hauses droht zu scheitern, wenn nicht eine
innerliche Kraftanstrengung Rettung bringt, die in Zwiespalt verstrickten Ge¬
müther noch rechtzeitig zum Frieden zurückführt. In der äußerlichen Moti-
virung der Begebenheiten hat es Gotthelf dies Mal leichter genommen als ge¬
wöhnlich; dagegen wird man auch durch keine zum Stoff nicht gehörigen
Politischen Anspielungen gestört.

Eine GelegenheitSschrift war wieder oaS 1843 — 1844 erschienene Werk:
„Wie Anne Bahl Jowäger haushaltet und wie eS ihm mit dem Doctern geht."
Gotthelf schien in seinen Lebensschilderungen sämmtliche Stände erschöpfen zu
wollen; doch ist sein Verhältniß zum Arzt weniger innerlich, als das zum
Pfarrer, Schulmeister und Bauer. Sehr interessant ist die Schilderung des
guten Arztes, dem die höhere Freude der Religion abgeht, der aber doch in
der Erfüllung seiner Pflicht trotz der bittersten Erfahrungen Trost findet. Auf
diesen Gegensatz des edlen Menschen, der kein Orthodoxer ist, gegen den recht¬
gläubigen und selbstgerechten Egoisten hat BitziuS offenbar großes Gewicht
gelegt, wie er denn überall die Treue in dem einem jeden gewordenen Beruf
über alles setzt, und von dem Satze nicht abläßt, daß nur an den Früchten
der Baum zu erkennen sei. — Der Kalender, den er 1840 — 1843 herausgab,
ist zu sehr unter der Stimmung der herrschenden Zeitwirren geschrieben, als
daß er für einen draußen Stehenden ein bleibendes Interesse erregen könnte.
Desto bedeutender ist das düstere Gemälde: Der Geltstag, oder die
Wirthschaft nach der neuen Mode (1846). „Dies Buch," sagt Gotthelf,
„zeichnet die traurigste Seite unseres Volkslebens, das Wirthshausleben, haupt¬
sächlich der Wirthsleute, theilweise auch das der Gäste. In solchen Nestern
"ut von solchen Leuten wird die Aufregung in unserem Vaterlande erzeugt
und erhalten. Hier entstehen die politische» Ansichten und Richtungen, und


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[0385] ziemlich sauer, noch Manchem offen steht, der ihn blos aus Trägheit ver» säumt. Die Fortsetzung der Geschichte, welche 1849 erschien, steht trotz ihres Reichthums an lebensvollen Figuren dem Anfang nach. Die Bilder und Sagen (1842—1844) gehören zu den schwächern Schriften Gotthelss; man vermißt die gründlichen historischen Vorstudien, und in einigen Erzählungen, namentlich der schwarzen Spinne, zeigt sich eine un¬ erfreuliche Neigung für düstere Farben. Desto gelungener ist in dieser Samm¬ lung die größere Erzählung: Geld und Geist, sowol wegen der prachtvollen Darstellung des patriarchalischen Bauernhauses, das hier in seiner SonntagS- seite auftritt, als in seiner psychologischen Analyse. Ein glücklicher, auf gegen¬ seitigem Vertrauen scheinbar fest ruhender Zustand, ein, wie man glauben sollte, auf die Dauer gesichertes Verhältniß zwischen wackern Eheleuten geräth plötzlich aus eine abschüssige Bahn, und wird, ohne daß bedeutende Fehler oder große Leidenschaften zu Tage träten, unbemerkt nach einer gefährlichen Tiefe gezogen. DaS Glück des Hauses droht zu scheitern, wenn nicht eine innerliche Kraftanstrengung Rettung bringt, die in Zwiespalt verstrickten Ge¬ müther noch rechtzeitig zum Frieden zurückführt. In der äußerlichen Moti- virung der Begebenheiten hat es Gotthelf dies Mal leichter genommen als ge¬ wöhnlich; dagegen wird man auch durch keine zum Stoff nicht gehörigen Politischen Anspielungen gestört. Eine GelegenheitSschrift war wieder oaS 1843 — 1844 erschienene Werk: „Wie Anne Bahl Jowäger haushaltet und wie eS ihm mit dem Doctern geht." Gotthelf schien in seinen Lebensschilderungen sämmtliche Stände erschöpfen zu wollen; doch ist sein Verhältniß zum Arzt weniger innerlich, als das zum Pfarrer, Schulmeister und Bauer. Sehr interessant ist die Schilderung des guten Arztes, dem die höhere Freude der Religion abgeht, der aber doch in der Erfüllung seiner Pflicht trotz der bittersten Erfahrungen Trost findet. Auf diesen Gegensatz des edlen Menschen, der kein Orthodoxer ist, gegen den recht¬ gläubigen und selbstgerechten Egoisten hat BitziuS offenbar großes Gewicht gelegt, wie er denn überall die Treue in dem einem jeden gewordenen Beruf über alles setzt, und von dem Satze nicht abläßt, daß nur an den Früchten der Baum zu erkennen sei. — Der Kalender, den er 1840 — 1843 herausgab, ist zu sehr unter der Stimmung der herrschenden Zeitwirren geschrieben, als daß er für einen draußen Stehenden ein bleibendes Interesse erregen könnte. Desto bedeutender ist das düstere Gemälde: Der Geltstag, oder die Wirthschaft nach der neuen Mode (1846). „Dies Buch," sagt Gotthelf, „zeichnet die traurigste Seite unseres Volkslebens, das Wirthshausleben, haupt¬ sächlich der Wirthsleute, theilweise auch das der Gäste. In solchen Nestern "ut von solchen Leuten wird die Aufregung in unserem Vaterlande erzeugt und erhalten. Hier entstehen die politische» Ansichten und Richtungen, und Grenzboten. II. 18Ü7. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/385>, abgerufen am 28.07.2024.