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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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schaftlichen Zwistigkeiten fühlten sie sich doch immer wieder zueinander hinge¬
zogen. So schreibt Gentz am 11. Mai 1808: "Ihre schwankenden, zweideu¬
tigen, unbefriedigender, dabei doch so harten, schneidenden Aeußerungen über
die Moral hatten mich aufs tiefste verwundet; der Spott, den Sie mit allen
alten Ideen über diesen Gegenstand trieben, brachte mich fast zur Verzweif¬
lung. Die Schadenfreude, mit welcher Sie die heutige Zerrüttung der Welt
betrachten, die stolzen Hoffnungen, die Sie darauf bauen, der absolute Man¬
gel aller Schonung gegen mich und einige andere meines Gleichen, die Sie
doch noch lieben -- alles das hatte schon den Sturm aufs höchste in mir
erregt; als ich nun endlich in der neunten Vorlesung auf die Stellen stieß,
wo sie Bonapartes Erziehungs- und Unterrichtsshstem bis in den Himmel er¬
heben, und dann durch ein fast treuloses "wie denn überhaupt :c." der Re¬
volution eine Schutzrede halten. -- In dem Zustande, worein diese mich ver¬
setzt hatte, konnte und mochte ich nicht weiter lesen." Trotzdem nimmt er die
Lectüre noch einmal vor, und jetzt überwältigt ihn der Stil. "Die Bestim¬
mung des menschlichen Geschlechts in die Schönheit zu setzen, ist ein Resul¬
tat, eine Auflösung, ein Spruch, vor dem zuletzt alle Entwürfe verstummen
müssen. Manches Harte erschien mir jetzt milder, manches Zweideutige klarer,
manches Anstößige erträglicher. Ost schien es mir sogar, Sie hätten in allem
recht, und es sperrte sich nur mein schwaches Gemüth gegen Wahrheiten, die
mich zu Boden drücken." Das sind zwar nur Einfälle, die zum Theil wieder
zurückgenommen werben, aber es zeigt doch, baß der kategorische Imperativ
nur dann über Gentz mächtig war, wenn seine Seele von einer mächtige"
Erregung ergriffen wurde. Ganz glücklich machte ihn ein Artikel Adam Mül¬
lers über den Geburtsadel, gegen Buchholtz gerichtet, von dessen Schriften er
damals die entsetzlichste Wirkung für Deutschland befürchtete. Er forderte ihn
auf, die Arbeit fortzusetzen, und verhieß ihm für diesen Fall eine höchst ange¬
nehme Existenz. "Ich weiß, was ich sage. Sie haben keine Idee von der
Consternation, in welche die buchholtz'schen Schriften die Denkenden un¬
ter dem alten Adel geworfen haben." ") Auch Müllers Glaube war mitt¬
lerweile positiver geworden. Schlegels Weisheit der Jndier befriedigte ihn
wenig, weil sie das Christenthum gewissermaßen durch den indischen Pantheis¬
mus zu stützen suchte. "Immer ist bei Christo der Schlüssel, den man erst
haben und halten muß, bevor sich ein Grab der Vorwelt und überhaupt irgend
ein Heiligthum der Erde aufthut." Wenn aber theoretisch die Gegensätze sich



") Dae war 1808. Man vergleiche damit einen Brief Müllers vom Ili. Januar ^82^
"Wir dürfen nun nicht verbergen, daß die GeburtSpräteusivnen in Europa, durch unsere >ehr
wesentliche Mithilfe sich wieder sehr breit zu machen beginnen. Es ist kein kleines Unglück,
zumal für die deutsche Aristokratie, daß sie ihren besten Vertheidigern den Weg zu verrenne"
verdammt ist."

schaftlichen Zwistigkeiten fühlten sie sich doch immer wieder zueinander hinge¬
zogen. So schreibt Gentz am 11. Mai 1808: „Ihre schwankenden, zweideu¬
tigen, unbefriedigender, dabei doch so harten, schneidenden Aeußerungen über
die Moral hatten mich aufs tiefste verwundet; der Spott, den Sie mit allen
alten Ideen über diesen Gegenstand trieben, brachte mich fast zur Verzweif¬
lung. Die Schadenfreude, mit welcher Sie die heutige Zerrüttung der Welt
betrachten, die stolzen Hoffnungen, die Sie darauf bauen, der absolute Man¬
gel aller Schonung gegen mich und einige andere meines Gleichen, die Sie
doch noch lieben — alles das hatte schon den Sturm aufs höchste in mir
erregt; als ich nun endlich in der neunten Vorlesung auf die Stellen stieß,
wo sie Bonapartes Erziehungs- und Unterrichtsshstem bis in den Himmel er¬
heben, und dann durch ein fast treuloses „wie denn überhaupt :c." der Re¬
volution eine Schutzrede halten. — In dem Zustande, worein diese mich ver¬
setzt hatte, konnte und mochte ich nicht weiter lesen." Trotzdem nimmt er die
Lectüre noch einmal vor, und jetzt überwältigt ihn der Stil. „Die Bestim¬
mung des menschlichen Geschlechts in die Schönheit zu setzen, ist ein Resul¬
tat, eine Auflösung, ein Spruch, vor dem zuletzt alle Entwürfe verstummen
müssen. Manches Harte erschien mir jetzt milder, manches Zweideutige klarer,
manches Anstößige erträglicher. Ost schien es mir sogar, Sie hätten in allem
recht, und es sperrte sich nur mein schwaches Gemüth gegen Wahrheiten, die
mich zu Boden drücken." Das sind zwar nur Einfälle, die zum Theil wieder
zurückgenommen werben, aber es zeigt doch, baß der kategorische Imperativ
nur dann über Gentz mächtig war, wenn seine Seele von einer mächtige»
Erregung ergriffen wurde. Ganz glücklich machte ihn ein Artikel Adam Mül¬
lers über den Geburtsadel, gegen Buchholtz gerichtet, von dessen Schriften er
damals die entsetzlichste Wirkung für Deutschland befürchtete. Er forderte ihn
auf, die Arbeit fortzusetzen, und verhieß ihm für diesen Fall eine höchst ange¬
nehme Existenz. „Ich weiß, was ich sage. Sie haben keine Idee von der
Consternation, in welche die buchholtz'schen Schriften die Denkenden un¬
ter dem alten Adel geworfen haben." ") Auch Müllers Glaube war mitt¬
lerweile positiver geworden. Schlegels Weisheit der Jndier befriedigte ihn
wenig, weil sie das Christenthum gewissermaßen durch den indischen Pantheis¬
mus zu stützen suchte. „Immer ist bei Christo der Schlüssel, den man erst
haben und halten muß, bevor sich ein Grab der Vorwelt und überhaupt irgend
ein Heiligthum der Erde aufthut." Wenn aber theoretisch die Gegensätze sich



") Dae war 1808. Man vergleiche damit einen Brief Müllers vom Ili. Januar ^82^
„Wir dürfen nun nicht verbergen, daß die GeburtSpräteusivnen in Europa, durch unsere >ehr
wesentliche Mithilfe sich wieder sehr breit zu machen beginnen. Es ist kein kleines Unglück,
zumal für die deutsche Aristokratie, daß sie ihren besten Vertheidigern den Weg zu verrenne»
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[0296] schaftlichen Zwistigkeiten fühlten sie sich doch immer wieder zueinander hinge¬ zogen. So schreibt Gentz am 11. Mai 1808: „Ihre schwankenden, zweideu¬ tigen, unbefriedigender, dabei doch so harten, schneidenden Aeußerungen über die Moral hatten mich aufs tiefste verwundet; der Spott, den Sie mit allen alten Ideen über diesen Gegenstand trieben, brachte mich fast zur Verzweif¬ lung. Die Schadenfreude, mit welcher Sie die heutige Zerrüttung der Welt betrachten, die stolzen Hoffnungen, die Sie darauf bauen, der absolute Man¬ gel aller Schonung gegen mich und einige andere meines Gleichen, die Sie doch noch lieben — alles das hatte schon den Sturm aufs höchste in mir erregt; als ich nun endlich in der neunten Vorlesung auf die Stellen stieß, wo sie Bonapartes Erziehungs- und Unterrichtsshstem bis in den Himmel er¬ heben, und dann durch ein fast treuloses „wie denn überhaupt :c." der Re¬ volution eine Schutzrede halten. — In dem Zustande, worein diese mich ver¬ setzt hatte, konnte und mochte ich nicht weiter lesen." Trotzdem nimmt er die Lectüre noch einmal vor, und jetzt überwältigt ihn der Stil. „Die Bestim¬ mung des menschlichen Geschlechts in die Schönheit zu setzen, ist ein Resul¬ tat, eine Auflösung, ein Spruch, vor dem zuletzt alle Entwürfe verstummen müssen. Manches Harte erschien mir jetzt milder, manches Zweideutige klarer, manches Anstößige erträglicher. Ost schien es mir sogar, Sie hätten in allem recht, und es sperrte sich nur mein schwaches Gemüth gegen Wahrheiten, die mich zu Boden drücken." Das sind zwar nur Einfälle, die zum Theil wieder zurückgenommen werben, aber es zeigt doch, baß der kategorische Imperativ nur dann über Gentz mächtig war, wenn seine Seele von einer mächtige» Erregung ergriffen wurde. Ganz glücklich machte ihn ein Artikel Adam Mül¬ lers über den Geburtsadel, gegen Buchholtz gerichtet, von dessen Schriften er damals die entsetzlichste Wirkung für Deutschland befürchtete. Er forderte ihn auf, die Arbeit fortzusetzen, und verhieß ihm für diesen Fall eine höchst ange¬ nehme Existenz. „Ich weiß, was ich sage. Sie haben keine Idee von der Consternation, in welche die buchholtz'schen Schriften die Denkenden un¬ ter dem alten Adel geworfen haben." ") Auch Müllers Glaube war mitt¬ lerweile positiver geworden. Schlegels Weisheit der Jndier befriedigte ihn wenig, weil sie das Christenthum gewissermaßen durch den indischen Pantheis¬ mus zu stützen suchte. „Immer ist bei Christo der Schlüssel, den man erst haben und halten muß, bevor sich ein Grab der Vorwelt und überhaupt irgend ein Heiligthum der Erde aufthut." Wenn aber theoretisch die Gegensätze sich ") Dae war 1808. Man vergleiche damit einen Brief Müllers vom Ili. Januar ^82^ „Wir dürfen nun nicht verbergen, daß die GeburtSpräteusivnen in Europa, durch unsere >ehr wesentliche Mithilfe sich wieder sehr breit zu machen beginnen. Es ist kein kleines Unglück, zumal für die deutsche Aristokratie, daß sie ihren besten Vertheidigern den Weg zu verrenne» verdammt ist."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/296>, abgerufen am 28.07.2024.