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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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nicht gemäß war. Namentlich auf der Rednerbühne steigerte sich die Freiheit
zur Frechheit, was der eignen Partei nützen, der Gegenpartei schaden konnte,
galt für erlaubt, nichl blos in politischen Debatten, sondern auch in Verhand¬
lungen vor Gericht. Wir haben das Bruchstück einer Rede, die der Redner
Lysias gegen den sokratischen Philosophen AeschineS für jemanden geschrieben
hat, der diesen wegen einer Schuldforderung belangte. Folgendes Bild ein¬
wirft der Anwalt des Gläubigers von den finanziellen Verhältnissen deS
Schuldners. "Mit Tagesanbruch kommen so viele vor sein Haus, Geliehenes
zurückzufordern, daß die Vorübergehenden glauben, er sei todt und sie ver¬
sammeln sich zum Begräbniß. Und alle Einwohner im Piräus sind so gegen
ihn gesonnen, daß sie meinen, es sei viel sicherer, in das adriatische Meer zu
schiffen, als mit ihm Geschäfte zu machen. Denn was er borgt, hält er viel
mehr für sein Eigenthum als was ihm sein Vater hinterlassen hat. Hat er
nicht gar das Vermögen des Silberhänblers Hermans in Besitz genommen,
nachdem er seine Frau verführt, die siebzig Jahr alt ist? Indem er sich an¬
stellte, in sie verliebt zu sein, hat er sie so zu stimmen gewußt, daß sie ihren
Mann und ihre Söhne zu Bettlern machte, ihn selbst aber in einen Salben¬
händler verwandelte. So verliebt ist er mit seinem Püppchen umgegangen,
und genoß ihre Jugend, deren Zähne zu zählen leichter ist, als die Finger
an ihrer Hand!" Viel mehr dürste hinter dem allen wol nicht stecken, alö daß
der Philosoph "das allgemeine menschliche Loos theilte, ein schlechter Zahler
zu sein"; und mehr haben auch ohne Zweifel die an solche Reden gewöhnten
Geschwornen nicht geglaubt.

Vielleicht noch mehr erfundene Geschichten als durch die politischen und
gerichtlichen Reden, sind durch die blos zur stilistischen Uebung und Ostentation
gehaltenen in Umlauf gekommen. Als das politische Leben Griechenlands
aufgehört hatte, wendete sich die Thätigkeit und Geschäftigkeit strebsamer Gei¬
ster, den Studien zu. Namentlich kam das Studium der stilistischen Muster
in Schwang, und der Eifer, mit dem es getrieben wurde, ging bis zum
Lächerlichen. sowol die Professoren des Stils unK der Eloquenz (man nannte
sie Sophisten), als die Studenten wetteiferten nun in Aufsätzen und Reden,
theils um sich die Vorzüge der alten Vorbilder recht zu eigen zu machen,
theils um sich mit den Resultaten ihrer Bemühungen zu produciren. Dieses
Studium der Rhetorik wurde dann auch in Rom eingebürgert, und jeder, der
eine gentlemännische Erziehung genoß, machte die Schule durch, was auf den
Stil der Schriftsteller des ersten Jahrhunderts einen unverkennbaren Einfluß
geübt hat; keiner ist ganz von rhetorischer Färbung frei. Die Themas dieser
Uebungsreden, die in einigen Punkten mit den deutschen Aufsätzen unsrer Prima¬
ner Aehnlichkeit haben, waren sehr vielfacher Natur. Theils sprach man über
nichtige Gegenstände, in deren Erhebung dann die Kunst bestand, als: Lob


nicht gemäß war. Namentlich auf der Rednerbühne steigerte sich die Freiheit
zur Frechheit, was der eignen Partei nützen, der Gegenpartei schaden konnte,
galt für erlaubt, nichl blos in politischen Debatten, sondern auch in Verhand¬
lungen vor Gericht. Wir haben das Bruchstück einer Rede, die der Redner
Lysias gegen den sokratischen Philosophen AeschineS für jemanden geschrieben
hat, der diesen wegen einer Schuldforderung belangte. Folgendes Bild ein¬
wirft der Anwalt des Gläubigers von den finanziellen Verhältnissen deS
Schuldners. „Mit Tagesanbruch kommen so viele vor sein Haus, Geliehenes
zurückzufordern, daß die Vorübergehenden glauben, er sei todt und sie ver¬
sammeln sich zum Begräbniß. Und alle Einwohner im Piräus sind so gegen
ihn gesonnen, daß sie meinen, es sei viel sicherer, in das adriatische Meer zu
schiffen, als mit ihm Geschäfte zu machen. Denn was er borgt, hält er viel
mehr für sein Eigenthum als was ihm sein Vater hinterlassen hat. Hat er
nicht gar das Vermögen des Silberhänblers Hermans in Besitz genommen,
nachdem er seine Frau verführt, die siebzig Jahr alt ist? Indem er sich an¬
stellte, in sie verliebt zu sein, hat er sie so zu stimmen gewußt, daß sie ihren
Mann und ihre Söhne zu Bettlern machte, ihn selbst aber in einen Salben¬
händler verwandelte. So verliebt ist er mit seinem Püppchen umgegangen,
und genoß ihre Jugend, deren Zähne zu zählen leichter ist, als die Finger
an ihrer Hand!" Viel mehr dürste hinter dem allen wol nicht stecken, alö daß
der Philosoph „das allgemeine menschliche Loos theilte, ein schlechter Zahler
zu sein"; und mehr haben auch ohne Zweifel die an solche Reden gewöhnten
Geschwornen nicht geglaubt.

Vielleicht noch mehr erfundene Geschichten als durch die politischen und
gerichtlichen Reden, sind durch die blos zur stilistischen Uebung und Ostentation
gehaltenen in Umlauf gekommen. Als das politische Leben Griechenlands
aufgehört hatte, wendete sich die Thätigkeit und Geschäftigkeit strebsamer Gei¬
ster, den Studien zu. Namentlich kam das Studium der stilistischen Muster
in Schwang, und der Eifer, mit dem es getrieben wurde, ging bis zum
Lächerlichen. sowol die Professoren des Stils unK der Eloquenz (man nannte
sie Sophisten), als die Studenten wetteiferten nun in Aufsätzen und Reden,
theils um sich die Vorzüge der alten Vorbilder recht zu eigen zu machen,
theils um sich mit den Resultaten ihrer Bemühungen zu produciren. Dieses
Studium der Rhetorik wurde dann auch in Rom eingebürgert, und jeder, der
eine gentlemännische Erziehung genoß, machte die Schule durch, was auf den
Stil der Schriftsteller des ersten Jahrhunderts einen unverkennbaren Einfluß
geübt hat; keiner ist ganz von rhetorischer Färbung frei. Die Themas dieser
Uebungsreden, die in einigen Punkten mit den deutschen Aufsätzen unsrer Prima¬
ner Aehnlichkeit haben, waren sehr vielfacher Natur. Theils sprach man über
nichtige Gegenstände, in deren Erhebung dann die Kunst bestand, als: Lob


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/20>, abgerufen am 28.07.2024.