Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.der Fliege oder Mücke, deS Staubes oder Rauches, oder man setzte gefeierte der Fliege oder Mücke, deS Staubes oder Rauches, oder man setzte gefeierte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103688"/> <p xml:id="ID_28" prev="#ID_27"> der Fliege oder Mücke, deS Staubes oder Rauches, oder man setzte gefeierte<lb/> Personen herab und erhob geschmähte, als: Lob des Thersites, Erhebung des<lb/> Paris über Hektor u. tgi.; theils fingirte man Fälle, gewöhnlich ebenso<lb/> grausenhaft als unmöglich, in denen die jugendliche Beredtsamkeit sich nach<lb/> Herzenslust austoben konnte: als Vatermorde, Giftmischereien, Blutschande<lb/> und Ehebruch, grausame Tyrannen und entmenschte Piraten spielten eine<lb/> Hauptrolle. Um zu zeigen, wie weit die Absurdität dieser Themas ging, sei<lb/> hier eins angeführt, über das eine lateinische Uebungsrede noch erhalten ist.<lb/> Die Bienen eines armen Mannes schwärmen in dem Garten eines reichen<lb/> Nachbars und saugen dessen Blumen aus. - Um dies zu verhindern, vergiftet<lb/> der Reiche die Blumen, und die Bienen des Armen kommen jammervoll um.<lb/> Die Aufgabe ist, eine Anklagerede gegen den reichen giftmischenden Bienen¬<lb/> mörder zu halten. Sehr häufig wurden die Stoffe auch aus der mythischen<lb/> oder wirklichen Geschichte genommen. „Die Thaten der Vorfahren, sagt<lb/> Lehrs in einem andern Aufsatz, waren durch die Geschichte überliefert, und<lb/> die konnte man feiern. Aber ihre Reden bei hundert Gelegenheiten waren<lb/> nicht überliefert. Also konnte man reden, waS sie hätten reden können und<lb/> was man ihnen hätte erwiedern können, und waS sie bei der oder jener Ge><lb/> legenden, wo sie gar nicht geredet, hätten sie geredet, würden geredet haben.<lb/> Einige solche Themata waren z. B. Demosthenes nach der Schlacht bei<lb/> Charonea. Wie vertheidigte sich Demosthenes gegen die Anklage des Demades,<lb/> vom Perserkönig mit fünfzig Talenten bestochen zu sein u. s. w. Eine zur<lb/> Uebung gegen Sokrates geschriebene Anklagerede ist schon im Alterthum für<lb/> die echte gehalten worden, und noch haben wir eine Rede gegen Epikur wegen<lb/> Atheismus; diese ist eine reine Fiction, denn gegen Epikur ist nie eine solche<lb/> Anklage erhoben worden. Ebenso verdankt die Nachricht von einer Doppelehe<lb/> des Sokrates ihre Entstehung der Phantasie der Rhetoren. Ueberall wurden<lb/> die historischen Verhältnisse in diesen Reden nicht bloß nach den Voraus¬<lb/> setzungen einer imaginären Welt umgestaltet, sondern auch ohne weiteres er¬<lb/> forderliche Thatsachen zugesetzt, um die Sache pikanter ober schauerlicher zu<lb/> machen. So z.B. hat die gangbare Erzählung von Ciceros Ermordung ihren<lb/> Ursprung in einer kleinen geschickten Entstellung der Thatsache durch die<lb/> Rhetorenschulen. Der Mörder des Cicero wurde von den Geschichtschreibern<lb/> verschieden angegeben, und nur wenige nannten einen gewissen PopilliuS<lb/> Lamas, den Cicero einmal in einem Civilproceß vertheidigt haben sollte. Den<lb/> Rhetpren war dies nicht rührend genug, und um den Effect zu steigern, er¬<lb/> zählten sie, Cicero habe jenen in einem Criminalprvceß vertheidigt. So liest<lb/> denn die Jugend, Dank ihren Bemühungen, mit Schauder und Rührung<lb/> noch heute in Beckers Weltgeschichte: der Mord sei ausgeführt worden dur,es<lb/> ein Ungeheuer, dem Cicero einst vor Gericht das Leben gerettet hatte."</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0021]
der Fliege oder Mücke, deS Staubes oder Rauches, oder man setzte gefeierte
Personen herab und erhob geschmähte, als: Lob des Thersites, Erhebung des
Paris über Hektor u. tgi.; theils fingirte man Fälle, gewöhnlich ebenso
grausenhaft als unmöglich, in denen die jugendliche Beredtsamkeit sich nach
Herzenslust austoben konnte: als Vatermorde, Giftmischereien, Blutschande
und Ehebruch, grausame Tyrannen und entmenschte Piraten spielten eine
Hauptrolle. Um zu zeigen, wie weit die Absurdität dieser Themas ging, sei
hier eins angeführt, über das eine lateinische Uebungsrede noch erhalten ist.
Die Bienen eines armen Mannes schwärmen in dem Garten eines reichen
Nachbars und saugen dessen Blumen aus. - Um dies zu verhindern, vergiftet
der Reiche die Blumen, und die Bienen des Armen kommen jammervoll um.
Die Aufgabe ist, eine Anklagerede gegen den reichen giftmischenden Bienen¬
mörder zu halten. Sehr häufig wurden die Stoffe auch aus der mythischen
oder wirklichen Geschichte genommen. „Die Thaten der Vorfahren, sagt
Lehrs in einem andern Aufsatz, waren durch die Geschichte überliefert, und
die konnte man feiern. Aber ihre Reden bei hundert Gelegenheiten waren
nicht überliefert. Also konnte man reden, waS sie hätten reden können und
was man ihnen hätte erwiedern können, und waS sie bei der oder jener Ge>
legenden, wo sie gar nicht geredet, hätten sie geredet, würden geredet haben.
Einige solche Themata waren z. B. Demosthenes nach der Schlacht bei
Charonea. Wie vertheidigte sich Demosthenes gegen die Anklage des Demades,
vom Perserkönig mit fünfzig Talenten bestochen zu sein u. s. w. Eine zur
Uebung gegen Sokrates geschriebene Anklagerede ist schon im Alterthum für
die echte gehalten worden, und noch haben wir eine Rede gegen Epikur wegen
Atheismus; diese ist eine reine Fiction, denn gegen Epikur ist nie eine solche
Anklage erhoben worden. Ebenso verdankt die Nachricht von einer Doppelehe
des Sokrates ihre Entstehung der Phantasie der Rhetoren. Ueberall wurden
die historischen Verhältnisse in diesen Reden nicht bloß nach den Voraus¬
setzungen einer imaginären Welt umgestaltet, sondern auch ohne weiteres er¬
forderliche Thatsachen zugesetzt, um die Sache pikanter ober schauerlicher zu
machen. So z.B. hat die gangbare Erzählung von Ciceros Ermordung ihren
Ursprung in einer kleinen geschickten Entstellung der Thatsache durch die
Rhetorenschulen. Der Mörder des Cicero wurde von den Geschichtschreibern
verschieden angegeben, und nur wenige nannten einen gewissen PopilliuS
Lamas, den Cicero einmal in einem Civilproceß vertheidigt haben sollte. Den
Rhetpren war dies nicht rührend genug, und um den Effect zu steigern, er¬
zählten sie, Cicero habe jenen in einem Criminalprvceß vertheidigt. So liest
denn die Jugend, Dank ihren Bemühungen, mit Schauder und Rührung
noch heute in Beckers Weltgeschichte: der Mord sei ausgeführt worden dur,es
ein Ungeheuer, dem Cicero einst vor Gericht das Leben gerettet hatte."
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |