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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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geschieht noch immer; namentlich von der Seite her, in deren Interesse eS
liegt, das republikanische Athen als einen Pfuhl der Korruption und Ge¬
meinheit, und die Demagogen als den Abschaum der Menschheit darzustellen.
Es ist eins von Grotcs Verdiensten, daß er dieser Auffassung überall nach¬
drücklich entgegengetreten ist. Diejenige Persönlichkeit, der der Spott der
Komödie in den Augen der Nachwelt am meisten geschadet hat, ist Kleon, und
die Caricatur, die Aristophanes von ihm gemacht hat, liegt eigentlich den über
ihn verbreiteten Vorstellungen zu Grunde; durch Grote lernen wir ihn richtiger
würdigen. Man hat bei dieser Art von Quellenbenutzung immer ganz ver¬
gessen, daß ja Sokrates bei dem ungezogenen Liebling der Grazien durchaus
nicht besser behandelt wird. Ueberhaupt aber war es nicht blos die Komödie,
sondern die täglichen Reibungen des öffentlichen Lebens in seiner damaligen
Freiheit, Oeffentlichkeit und Gemeinsamkeit, die zu hundertfältiger Ueber¬
treibungen, boshaften Erdichtungen und Geschichtchen Veranlassung gaben.
"Bei der unbeschränkten Gedanken- und Redefreiheit eines begabten Volks,
bei der durch Polizei und Convenienz nicht eingeengten Freiheit des Handelns
entwickelten und äußerten sich die verschiedensten Richtungen. Da docirten
und gebährden sich die verschiedensten philosophischen Lehrer, und zwar nicht
in der Zurückgezogenheit des Katheders, sondern auf öffentlichen Plätzen, in
Hallen und Gymnasien, wo Neugierige und Wißbegierige, Geschäftige und
Müsstge, Freunde und Gegner, Loder und Spötter kamen und gingen, hörten
und horchten, sahen und beobachteten, jeder nach der Stimmung, die er mit¬
brachte. Und diese Philosophie war nicht eine buchgelehrte; sie hatte und
sollte haben eine unmittelbare Beziehung auf das Leben; ausprägen sollten
sich in den Handlungen der Philosophen, ja an seiner Person selbst seine
Grundsätze. Ging ja das bis zur Kleidung herab, an der man die verschie¬
denen Schulen unterscheiden konnte, Mantel und Schuhe, Bart und Stock.
Hatte nun einer das Bild eines Philosophen, ich will nicht sagen von Dio¬
genes, aber von Sokrates genommen, so war ihm die elegantere Haltung,
mit der Plato und die Seinigen aufzutreten pflegten, ein Anstoß, eine un¬
philosophische Weichlichkeit oder Ueppigkeit, die sie dann auch sogar als Un¬
züchtigkeit raillirten oder auch ernstlich glaubten, sie können dabei nicht fehlen,
und wie leicht sich zu der Vorstellung verzerrte oder erdachte Geschichten
finden, weiß wol jedermann. Mit solchem Bilde muß man an die Biographien
der Philosophen von Diogenes Laertius gehn, um in diesem Labyrinthe von
Anekdoten und Erzählungen einen Weg zu finden."

Die bis zur Sentimentalität gesteigerte Schonung und Vorsicht im Um¬
gange, die zum guten Theil eine Folge unserer Verhältnisse ist, kannten die
Alten nicht, am wenigsten die Griechen, deren leicht beweglicher Natur die Behut¬
samkeit und Zurückhaltung, ja gradezu gesagt auch der strenge Wahrheitssinn


geschieht noch immer; namentlich von der Seite her, in deren Interesse eS
liegt, das republikanische Athen als einen Pfuhl der Korruption und Ge¬
meinheit, und die Demagogen als den Abschaum der Menschheit darzustellen.
Es ist eins von Grotcs Verdiensten, daß er dieser Auffassung überall nach¬
drücklich entgegengetreten ist. Diejenige Persönlichkeit, der der Spott der
Komödie in den Augen der Nachwelt am meisten geschadet hat, ist Kleon, und
die Caricatur, die Aristophanes von ihm gemacht hat, liegt eigentlich den über
ihn verbreiteten Vorstellungen zu Grunde; durch Grote lernen wir ihn richtiger
würdigen. Man hat bei dieser Art von Quellenbenutzung immer ganz ver¬
gessen, daß ja Sokrates bei dem ungezogenen Liebling der Grazien durchaus
nicht besser behandelt wird. Ueberhaupt aber war es nicht blos die Komödie,
sondern die täglichen Reibungen des öffentlichen Lebens in seiner damaligen
Freiheit, Oeffentlichkeit und Gemeinsamkeit, die zu hundertfältiger Ueber¬
treibungen, boshaften Erdichtungen und Geschichtchen Veranlassung gaben.
„Bei der unbeschränkten Gedanken- und Redefreiheit eines begabten Volks,
bei der durch Polizei und Convenienz nicht eingeengten Freiheit des Handelns
entwickelten und äußerten sich die verschiedensten Richtungen. Da docirten
und gebährden sich die verschiedensten philosophischen Lehrer, und zwar nicht
in der Zurückgezogenheit des Katheders, sondern auf öffentlichen Plätzen, in
Hallen und Gymnasien, wo Neugierige und Wißbegierige, Geschäftige und
Müsstge, Freunde und Gegner, Loder und Spötter kamen und gingen, hörten
und horchten, sahen und beobachteten, jeder nach der Stimmung, die er mit¬
brachte. Und diese Philosophie war nicht eine buchgelehrte; sie hatte und
sollte haben eine unmittelbare Beziehung auf das Leben; ausprägen sollten
sich in den Handlungen der Philosophen, ja an seiner Person selbst seine
Grundsätze. Ging ja das bis zur Kleidung herab, an der man die verschie¬
denen Schulen unterscheiden konnte, Mantel und Schuhe, Bart und Stock.
Hatte nun einer das Bild eines Philosophen, ich will nicht sagen von Dio¬
genes, aber von Sokrates genommen, so war ihm die elegantere Haltung,
mit der Plato und die Seinigen aufzutreten pflegten, ein Anstoß, eine un¬
philosophische Weichlichkeit oder Ueppigkeit, die sie dann auch sogar als Un¬
züchtigkeit raillirten oder auch ernstlich glaubten, sie können dabei nicht fehlen,
und wie leicht sich zu der Vorstellung verzerrte oder erdachte Geschichten
finden, weiß wol jedermann. Mit solchem Bilde muß man an die Biographien
der Philosophen von Diogenes Laertius gehn, um in diesem Labyrinthe von
Anekdoten und Erzählungen einen Weg zu finden."

Die bis zur Sentimentalität gesteigerte Schonung und Vorsicht im Um¬
gange, die zum guten Theil eine Folge unserer Verhältnisse ist, kannten die
Alten nicht, am wenigsten die Griechen, deren leicht beweglicher Natur die Behut¬
samkeit und Zurückhaltung, ja gradezu gesagt auch der strenge Wahrheitssinn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/19>, abgerufen am 28.07.2024.