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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Lehrs, führt zu dem Verkehrtesten; sie führt zu dem, womit uns (nicht ohne
Beschämung kann man eS sagen) noch in den setzten Zeiten ausgewartet wor¬
den ist, zu Geschichten des trojanischen Krieges und der Amazonen."

Eine andre Quelle, aus der zahlreiche Fabeln in die griechische Literatur¬
geschichte geflossen sind, ist die Komödie. Aus ihr rühren namentlich die Er¬
zählungen von seltsamen Todesarten berühmter Männer her; denn das Lust¬
spiel scherzte über alles, auch über das wichtigste Ereigniß im Leben, den Tod.
Wenn z. B. der Cyniker Diogenes an einem rohen Ochsenfuß gestorben sein
soll, den er herunterschlang, so ist die Erdichtung handgreiflich, und der Spott
aus dem Widerwillen hervorgegangen, den dieser plumpe Versöhner der Grazie
und Schicklichkeit der attischen Urbanität einflößte. Ein anschauliches Beispiel,
wie solche Geschichtchen in Umlauf kamen, die von spätern Schriftstellern als
baare Münze genommen, ihren Weg auch in neuere Geschichten der Literatur
gefunden haben, besitzen wir noch in dem "Frieden" des Aristophanes. "Ein
älterer Kunstgenoß des Aristophanes war der bekannte Komiker Kratinus,
welcher in dem allgemeinen Rufe stand und auch bei den Komikern deswegen
des Spottes genug zu hören hat, daß er der Weinflasche zu fleißig zuspreche.
Nun heißt es in einer Scene des "Friedens", wo über verschiedene Angelegen¬
heiten Athens Erkundigung eingezogen wird: "Lebt denn der weise Kratinus
noch? -- Der ist gestorben, als die Lacedämonier einen Einfall machten. --
Wie denn? -- Er sank in Ohnmacht, als er sie ein volles Weinfaß zer¬
schlagen sah." -- Die ganze Geschichte von Sappho und Phaon, die dem
deutschen Publicum so viel Thränen gekostet hat, ist nichts als eine Erfindung
der griechischen Komödie; es ist Welckers Verdienst, dies nachgewiesen zu
haben. Die "veilchenlockige, hehre, mild lächelnde Sappho", wie sie ihr Zeit¬
genoß und Mitbürger, der Dichter Alcäus, nennt, hatten die Lustspieldichter
zu einem kleinen, schwarzen, häßlichen, verbuhlten alten Weibe gemacht, daS
sich vergebens um die Liebe des schönen Phaon bewirbt; diesen scheinen sie
als eine Art Faublas dargestellt zu haben. Um des Contrastes willen hatten
sie der Sappho noch die beiden bissigsten griechischen Dichter, Hipponar und
Archilochus, zu Liebhabern gegeben, was wegen der Zeitverhältnisse ganz un¬
möglich ist. -- Die hervorragendsten Erscheinungen auf allen Gebieten, Phi¬
losophen, Gelehrte, Dichter und vor allem Staatsmänner und Redner mußten
sich gefallen lassen, in dieser Weise auf der Bühne dem Volke zur Unter¬
haltung zu dienen; und wer die Komödien deS Aristophanes kennt, weiß, wie
ausschweifend ihre Phantasie in Erfindung von Geschichten war, von denen
kein Wort wahr ist. Den Aristophanes als Quelle M die politische Geschichte
seiner Zeit benutzen, hat ebenso viel Sinn, als sich über die heutigen preu¬
ßischen Staatsmänner aus dem Kladderadatsch, oder die englischen aus dem
Punch belehren wollen. Nichtsdestoweniger ist es von jeher geschehn, und


Lehrs, führt zu dem Verkehrtesten; sie führt zu dem, womit uns (nicht ohne
Beschämung kann man eS sagen) noch in den setzten Zeiten ausgewartet wor¬
den ist, zu Geschichten des trojanischen Krieges und der Amazonen."

Eine andre Quelle, aus der zahlreiche Fabeln in die griechische Literatur¬
geschichte geflossen sind, ist die Komödie. Aus ihr rühren namentlich die Er¬
zählungen von seltsamen Todesarten berühmter Männer her; denn das Lust¬
spiel scherzte über alles, auch über das wichtigste Ereigniß im Leben, den Tod.
Wenn z. B. der Cyniker Diogenes an einem rohen Ochsenfuß gestorben sein
soll, den er herunterschlang, so ist die Erdichtung handgreiflich, und der Spott
aus dem Widerwillen hervorgegangen, den dieser plumpe Versöhner der Grazie
und Schicklichkeit der attischen Urbanität einflößte. Ein anschauliches Beispiel,
wie solche Geschichtchen in Umlauf kamen, die von spätern Schriftstellern als
baare Münze genommen, ihren Weg auch in neuere Geschichten der Literatur
gefunden haben, besitzen wir noch in dem „Frieden" des Aristophanes. „Ein
älterer Kunstgenoß des Aristophanes war der bekannte Komiker Kratinus,
welcher in dem allgemeinen Rufe stand und auch bei den Komikern deswegen
des Spottes genug zu hören hat, daß er der Weinflasche zu fleißig zuspreche.
Nun heißt es in einer Scene des „Friedens", wo über verschiedene Angelegen¬
heiten Athens Erkundigung eingezogen wird: „Lebt denn der weise Kratinus
noch? — Der ist gestorben, als die Lacedämonier einen Einfall machten. —
Wie denn? — Er sank in Ohnmacht, als er sie ein volles Weinfaß zer¬
schlagen sah." — Die ganze Geschichte von Sappho und Phaon, die dem
deutschen Publicum so viel Thränen gekostet hat, ist nichts als eine Erfindung
der griechischen Komödie; es ist Welckers Verdienst, dies nachgewiesen zu
haben. Die „veilchenlockige, hehre, mild lächelnde Sappho", wie sie ihr Zeit¬
genoß und Mitbürger, der Dichter Alcäus, nennt, hatten die Lustspieldichter
zu einem kleinen, schwarzen, häßlichen, verbuhlten alten Weibe gemacht, daS
sich vergebens um die Liebe des schönen Phaon bewirbt; diesen scheinen sie
als eine Art Faublas dargestellt zu haben. Um des Contrastes willen hatten
sie der Sappho noch die beiden bissigsten griechischen Dichter, Hipponar und
Archilochus, zu Liebhabern gegeben, was wegen der Zeitverhältnisse ganz un¬
möglich ist. — Die hervorragendsten Erscheinungen auf allen Gebieten, Phi¬
losophen, Gelehrte, Dichter und vor allem Staatsmänner und Redner mußten
sich gefallen lassen, in dieser Weise auf der Bühne dem Volke zur Unter¬
haltung zu dienen; und wer die Komödien deS Aristophanes kennt, weiß, wie
ausschweifend ihre Phantasie in Erfindung von Geschichten war, von denen
kein Wort wahr ist. Den Aristophanes als Quelle M die politische Geschichte
seiner Zeit benutzen, hat ebenso viel Sinn, als sich über die heutigen preu¬
ßischen Staatsmänner aus dem Kladderadatsch, oder die englischen aus dem
Punch belehren wollen. Nichtsdestoweniger ist es von jeher geschehn, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/18>, abgerufen am 28.07.2024.