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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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ganz aus, da er gegen sie einige nicht ganz ehrenhafte Mittel anwandte. Die
Drohungen Dantons, des Präsidenten der Cordeliers, und Mirabeaus fruch¬
teten nichts; die Municipalität mußte sich ins Mittel legen. Diese ärgerlichen
Scenen, die in EtienneS Geschichte des französischen Theaters seit der Revo¬
lution ausführlich mitgetheilt sind, führten endlich zur Gründung eines neuen
patriotischen Theaters, an dem si.es Talma, Dugcizon und Madame Vestris
betheiligten, und welches am 27. April 1791 Heinrich VIII. aufführte. Auch
dies Mal war der Erfolg noch ein großer, obgleich kein enthusiastischer mehr.
Heinrich VIII. war wie ein Blaubart dargestellt, wie man damals anfing sich
die Könige überhaupt zu denken. Das Stück war früher geschrieben, als
Karl IX., es stand nicht ganz auf der Höhe der Revolution, und die Feinde
der unglücklichen Marie Antourette mochten von der Verherrlichung der Anna
Boleyn nichts hören, die übrigens nicht unpoetisch durchgeführt war.

Der nächste Versuch: Jean Calas, sollte den Philosophen von Ferney
wieder zu Ehren bringen, der das Andenken eines unschuldig Hingerichteten
restituirt hatte. Wenn das Stück keinen Eindruck machte, so lag das haupt¬
sächlich an zwei Gründen. ClMier hatte seine Absicht laut werden lassen,
mehre Dichter waren ihm mit der Bearbeitung des Stoffs zuvorgekommen,
und das Publicum war es müde, dieselbe Geschichte immer von neuem zu
hören. Außerdem zeigte sich hier bei einem bürgerlichen, realistischen Stoff
die Schwäche der alten tragischen Form, der sich Chvnier nicht zu entziehen
wußte. Bei den Türken, bei den Römern, auch selbst bei einem mittelalter¬
lichen Stoff ließ man sich die conventionelle DeclamMon gefallen; aber
dies Mal lag die Vergleichung mit der Wirklichkeit zu nahe, um nicht das Un¬
natürliche jener gezierten und abstracten Sprache, jener hochtönenden Umschrei¬
bungen empfinden zu lassen, in denen sich selbst die Magd des Jean Calas
ausdrückte. Wenn man es auch nur dunkel empfand, so trat doch in der still¬
schweigenden Opposition das Bewußtsein hervor, daß jede Handlung eine
bestimmte Fache verlange, und bei dem realistischen Stoff regte sich das Be¬
dürfniß nach realistischem Ausdruck.

JnCajusGracchuö, aufgeführt Februar 1792, fand Chenier seinen
alten Ton wieder. Das Stück hatte einen großen Erfolg. Von Handlung
war kaum die Rede; aber die strenge, leidenschaftliche Deklamation, der kräftige
Ausdruck des Patriotismus, das Fieber der Freiheit und Gleichheit regten die
Menge aus. Die Glanzsccne war dies Mal eine Volksversammlung. Man
glaubte sich im Jakvbinerclub zu befinden, und der Dichter des Gracchus wollte
den verhaßten Moderantismus, bis ins Herz verwunden. Wie, schneI, die Zeiten
sich ändern, zeigt eine, Wiederaufführung des Stücks während der Schreckens-
zeit. Im zweiten Act kommt die Stelle vor:


ganz aus, da er gegen sie einige nicht ganz ehrenhafte Mittel anwandte. Die
Drohungen Dantons, des Präsidenten der Cordeliers, und Mirabeaus fruch¬
teten nichts; die Municipalität mußte sich ins Mittel legen. Diese ärgerlichen
Scenen, die in EtienneS Geschichte des französischen Theaters seit der Revo¬
lution ausführlich mitgetheilt sind, führten endlich zur Gründung eines neuen
patriotischen Theaters, an dem si.es Talma, Dugcizon und Madame Vestris
betheiligten, und welches am 27. April 1791 Heinrich VIII. aufführte. Auch
dies Mal war der Erfolg noch ein großer, obgleich kein enthusiastischer mehr.
Heinrich VIII. war wie ein Blaubart dargestellt, wie man damals anfing sich
die Könige überhaupt zu denken. Das Stück war früher geschrieben, als
Karl IX., es stand nicht ganz auf der Höhe der Revolution, und die Feinde
der unglücklichen Marie Antourette mochten von der Verherrlichung der Anna
Boleyn nichts hören, die übrigens nicht unpoetisch durchgeführt war.

Der nächste Versuch: Jean Calas, sollte den Philosophen von Ferney
wieder zu Ehren bringen, der das Andenken eines unschuldig Hingerichteten
restituirt hatte. Wenn das Stück keinen Eindruck machte, so lag das haupt¬
sächlich an zwei Gründen. ClMier hatte seine Absicht laut werden lassen,
mehre Dichter waren ihm mit der Bearbeitung des Stoffs zuvorgekommen,
und das Publicum war es müde, dieselbe Geschichte immer von neuem zu
hören. Außerdem zeigte sich hier bei einem bürgerlichen, realistischen Stoff
die Schwäche der alten tragischen Form, der sich Chvnier nicht zu entziehen
wußte. Bei den Türken, bei den Römern, auch selbst bei einem mittelalter¬
lichen Stoff ließ man sich die conventionelle DeclamMon gefallen; aber
dies Mal lag die Vergleichung mit der Wirklichkeit zu nahe, um nicht das Un¬
natürliche jener gezierten und abstracten Sprache, jener hochtönenden Umschrei¬
bungen empfinden zu lassen, in denen sich selbst die Magd des Jean Calas
ausdrückte. Wenn man es auch nur dunkel empfand, so trat doch in der still¬
schweigenden Opposition das Bewußtsein hervor, daß jede Handlung eine
bestimmte Fache verlange, und bei dem realistischen Stoff regte sich das Be¬
dürfniß nach realistischem Ausdruck.

JnCajusGracchuö, aufgeführt Februar 1792, fand Chenier seinen
alten Ton wieder. Das Stück hatte einen großen Erfolg. Von Handlung
war kaum die Rede; aber die strenge, leidenschaftliche Deklamation, der kräftige
Ausdruck des Patriotismus, das Fieber der Freiheit und Gleichheit regten die
Menge aus. Die Glanzsccne war dies Mal eine Volksversammlung. Man
glaubte sich im Jakvbinerclub zu befinden, und der Dichter des Gracchus wollte
den verhaßten Moderantismus, bis ins Herz verwunden. Wie, schneI, die Zeiten
sich ändern, zeigt eine, Wiederaufführung des Stücks während der Schreckens-
zeit. Im zweiten Act kommt die Stelle vor:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/188>, abgerufen am 28.07.2024.