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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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und vorzugsweise der lyrische, unverletzlich von Menschen und unter besonderer
Aufsicht der Götter; diese lebendige Idee schuf sich die Materie. DaS ist der
Ursprung jener Mythen und ähnlicher; denn man findet denselben Gedanken
noch mehrmals sonst in den Dichtergeschichteil wiederkehrend, z. B. den, von
dessen Hand Archilochus in der Schlacht getödtet war, wies die Pythia, als
er einst das Orakel befragen wollte, mit den Worten zurück: der den Musen¬
priester erschlug, entweiche vom Tempel. Und so fort."

Trotzdem daß das Zusammenhalten dieser innerlich verwandten Sage die
Veranlassung ihrer Entstehung so deutlich zeigt, hat man sich auch hier nicht
deS Glaubens enthalten können, irgend etwas Wahres müsse doch darin sein.
Arion, hat man gemeint, müsse doch wenigstens räuberischen Nachstellungen
aus einer Seefahrt glücklich entgangen sein, den Delphin habe man dann hinzu¬
gethan. Die Geschichte des Simonides ist folgendermaßen construirt worden.
Skopas habe sich irgend etwas ganz besonders Grausames gegen die Thesfalier
zu Schulden kommen lassen. Aus Rache haben sie den Saal, den er sich zum
Siegesmahle bauen ließ, unterminirt; "den süßen Dichter" aber haben sie vor¬
her herausgerufen. "Man kennt, sagt Lehrs, diese Art natürlicher Erklärung
wie sie. genannt wird, aus einem andern Gebiete gut genug; ein jedes Fac¬
tum wird als wahr vorausgesetzt, nur das Wunderbare abgestreift, da aber die
Facta dann auseinanderfallen und sich Schaden thun, so setzt man sie neu
zusammen mit der stillschweigenden Erlaubniß und Nothwendigkeit, was sich
verrenkt hat, zu zerren, wo es noch nicht schließen will, ein Stückchen hinein¬
zusetzen, bis die plumpste Marionette zu Stande gebracht wird, die zugleich
geschmacklos und unwahr ist."

"Wie viel rinn, wenn sich einmal die Sage verräth, Thatsache bleibt,
kann nie, wenn nicht andre Zeugnisse hinzukommen, gewußt werden. Zwar
ist es natürlich und ist auch oft geschehn, daß sie an irgend ein Factum, daS
sonst aus dem Leben der betreffenden Personen gangbar oder beglaubigt war,
anknüpfte (bei den Dichtern manchmal an ein Gedicht); allein welches eben dieses
Factum sei, wie weit, es reiche, kann nie gewußt werden; ja nothwendig ist
es überhaupt nicht." Es gab unter Simonides Siegeroden eine mit einer
Episode auf die Dioskuren, allein sie war nicht für Skopas gedichtet. Simo-
nides war auch mit den Skopaden befreundet, und einige von ihnen fanden
einen plötzlichen Tod, wie es scheint durch einen Einsturz; aber Simonides
ist nicht hierbei gerettet worden, ja überhaupt nicht zugegen gewesen. Ein
für den Dichter so ruhmvolles, für seine Frömmigkeit so bedeutendes Er¬
eignis) hätte in seinen Gedichten erwähnt sein müssen; aber nicht einmal in
einem Klagelied, das er auf den plötzlichen Untergang der Skopaden gedichtet
hatte, und dessen Anfang noch erhalten ist, kam etwas davon vor. Die Rich¬
tung, blos aus den Mythen die wahren Facta herausschälen zu wollen, sagt


Grenzboten. II. 2

und vorzugsweise der lyrische, unverletzlich von Menschen und unter besonderer
Aufsicht der Götter; diese lebendige Idee schuf sich die Materie. DaS ist der
Ursprung jener Mythen und ähnlicher; denn man findet denselben Gedanken
noch mehrmals sonst in den Dichtergeschichteil wiederkehrend, z. B. den, von
dessen Hand Archilochus in der Schlacht getödtet war, wies die Pythia, als
er einst das Orakel befragen wollte, mit den Worten zurück: der den Musen¬
priester erschlug, entweiche vom Tempel. Und so fort."

Trotzdem daß das Zusammenhalten dieser innerlich verwandten Sage die
Veranlassung ihrer Entstehung so deutlich zeigt, hat man sich auch hier nicht
deS Glaubens enthalten können, irgend etwas Wahres müsse doch darin sein.
Arion, hat man gemeint, müsse doch wenigstens räuberischen Nachstellungen
aus einer Seefahrt glücklich entgangen sein, den Delphin habe man dann hinzu¬
gethan. Die Geschichte des Simonides ist folgendermaßen construirt worden.
Skopas habe sich irgend etwas ganz besonders Grausames gegen die Thesfalier
zu Schulden kommen lassen. Aus Rache haben sie den Saal, den er sich zum
Siegesmahle bauen ließ, unterminirt; „den süßen Dichter" aber haben sie vor¬
her herausgerufen. „Man kennt, sagt Lehrs, diese Art natürlicher Erklärung
wie sie. genannt wird, aus einem andern Gebiete gut genug; ein jedes Fac¬
tum wird als wahr vorausgesetzt, nur das Wunderbare abgestreift, da aber die
Facta dann auseinanderfallen und sich Schaden thun, so setzt man sie neu
zusammen mit der stillschweigenden Erlaubniß und Nothwendigkeit, was sich
verrenkt hat, zu zerren, wo es noch nicht schließen will, ein Stückchen hinein¬
zusetzen, bis die plumpste Marionette zu Stande gebracht wird, die zugleich
geschmacklos und unwahr ist."

„Wie viel rinn, wenn sich einmal die Sage verräth, Thatsache bleibt,
kann nie, wenn nicht andre Zeugnisse hinzukommen, gewußt werden. Zwar
ist es natürlich und ist auch oft geschehn, daß sie an irgend ein Factum, daS
sonst aus dem Leben der betreffenden Personen gangbar oder beglaubigt war,
anknüpfte (bei den Dichtern manchmal an ein Gedicht); allein welches eben dieses
Factum sei, wie weit, es reiche, kann nie gewußt werden; ja nothwendig ist
es überhaupt nicht." Es gab unter Simonides Siegeroden eine mit einer
Episode auf die Dioskuren, allein sie war nicht für Skopas gedichtet. Simo-
nides war auch mit den Skopaden befreundet, und einige von ihnen fanden
einen plötzlichen Tod, wie es scheint durch einen Einsturz; aber Simonides
ist nicht hierbei gerettet worden, ja überhaupt nicht zugegen gewesen. Ein
für den Dichter so ruhmvolles, für seine Frömmigkeit so bedeutendes Er¬
eignis) hätte in seinen Gedichten erwähnt sein müssen; aber nicht einmal in
einem Klagelied, das er auf den plötzlichen Untergang der Skopaden gedichtet
hatte, und dessen Anfang noch erhalten ist, kam etwas davon vor. Die Rich¬
tung, blos aus den Mythen die wahren Facta herausschälen zu wollen, sagt


Grenzboten. II. 2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/17>, abgerufen am 29.07.2024.